Das Haus, in dem die Freundin wohnt, liegt leicht erhöht an einem Abhang mit Blick auf den Friedhof. Sie erzählt, dass Besucherinnen und Freunde, die zum ersten Mal einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster auf die vielen Gräber werfen, unterschiedlich reagieren. Ständig den Tod vor Augen zu haben, wäre ihnen unangenehm, sagen die einen. Andere wieder können verstehen, dass diese Nachbarschaft auch gut tun kann.
Ihr selber sei es manchmal so ergangen, dass sie eine Art Vorfreude empfunden habe, als sich wieder einmal eine kleine Trauergemeinde versammelt habe. Würde es ihr – irgendwann – nicht auch so gehen? Da würde sie liegen, umringt von nachdenklichen, vielleicht erschütterten, vielleicht sehr traurigen Menschen; ein Pfarrer spräche tröstliche Worte, jemand würde den Lebenslauf vorlesen…
Doch dann drehe sie sich um, gehe in die Küche, koche einen Tee, plane an diesem Tag dies und das zu tun! Aber, so schloss sie, es sei doch gut, hin und wieder aus dem Fenster zu schauen, hinunter zu den Gräbern, an denen sich, auch wenn keine Beerdigung im Gange wäre, fast immer Menschen bewegten, mit Blumen, mit Gießkannen, häufig im Gespräch miteinander. Und oft stehe jemand ganz ruhig vor einem Grab.
Am heutigen Totensonntag trauern viele Menschen um jene, die im letzten Jahr von ihnen gegangen sind. Unwiderruflich, unwiederbringlich. Pläne, Hoffnungen, Lebensentwürfe sind zerbrochen.
Wir alle denken an die Toten in der Familie, in der Nähe, an die, die nach der Quälerei aus Diagnose und neuer Diagnose, Chemo, OP und Reha endlich in Wut, Verzweiflung oder Gelassenheit gestorben sind, wir denken auch an die in der Ferne, die die Insel Lampedusa nicht mehr erreicht haben, an die, denen der Hunger überall auf der Welt den Atem nahm.
Die Aussicht auf den eigenen Tod stellt sich ein, wenn auch nur vorübergehend. Allzu lange halten wir es bei diesem Gedanken nicht aus. So ein trüber Novembertag ist zum Melancholischwerden. Der Toten zu gedenken ist erträglicher als an den eigenen Tod zu denken. Es ist ohne hin schmerzlich genug, dass die anderen sterben. Die Freundin mit dem Blick auf den Friedhof drehte sich auch um und ging zurück in die Küche, um den Tag zu planen…Der Tod ist und bleibt eine große Unverschämtheit und ein erbarmungsloser Zerstörer.
Müssen wir dem Tod nicht ganz anders entgegentreten als mit Melancholie und herbstlichen Gedanken über die Vergänglichkeit! Da gibt es doch biblische Versprechen, da gibt es doch biblische Weckrufe! In den christlichen Gemeinden ertönt am heutigen Totensonntag der Weckruf des Jesus von Nazareth:
„Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte werden nicht vergehen!“
Himmel und Erde werden vergehen – das ist das Gesetz des Lebens, dem werden wir niemals entrinnen, unerträglich und Herz zerreißend. Das Evangelium des Jesus von Nazareth aber widerspricht: „Meine Worte aber werden nicht vergehen“. Inwiefern soll das gelten? Worin besteht die Kraft dieser Worte?
Man kann und muss es ganz einfach formulieren: Diese Worte ergreifen. Mit der Kraft dieser Worte werden Menschen in der Trauer getröstet. Durch die Kraft dieser Worte werden Menschen durch schreckliche Lebenskrisen getragen. In der Kraft dieser Worte können Menschen ins Sterben gehen und das Zeitliche segnen. Das ist das Evangelium Gottes gegen das Gesetz der Welt. In dieser vergänglichen Welt ergreifen uns Sätze, die uns Mut zum Leben und Mut zum Sterben vermitteln.
„Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte werden nicht vergehen“ – klingt da nicht Auflehnung und Trotz heraus? Mehr noch: Eine wundervolle Unbescheidenheit? Diese Worte sind ein Versprechen: „Mein Worte werden nicht vergehen“ – ist versprochen. Einmal wird der Tod nicht mehr sein – ist versprochen. Einmal werden Schmerzen und Seufzer geflohen sein – ist versprochen. Es gilt, auf diesem Versprechen zu beharren. Wir Menschen müssen nicht alles wissen. Das ist genug: „Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte werden nicht vergehen!“. Die ersten Christen haben auf dieses Versprechen mit einer Bitte geantwortet, die an jedes Ende gehört: Es vergehe die Welt. Es komme dein Reich.