Gewalt und Gerechtigkeit

Lernschritte zum biblischen Gottesbild

„Nicht alle Gewalt auf dieser Erde hat religiöse Gründe, aber noch zuviel an Gewalt geschieht im Namen einer Religion. Tag für Tag kommen Nachrichten ins Haus: Terror im Namen des Islam, Bomben zwischen Katholiken und Protestanten, Massaker zwischen Hindus und Buddhisten, Völkermord in Afrika, Krieg zwischen Katholiken, Orthodoxen und Muslimen, Verletzung der sozialen Gerechtigkeit in Lateinamerikas. Das Erschrecken ist meist groß. Sind Religionen immer noch fähig, Menschen zu Gewalt zu inspirieren, Gewalt und Tod zu legitimieren?“

Mit diesen Worten eröffnen die Herausgeber des Concilium – Themaheftes „Religionen als Quelle von Gewalt?“ (Mainz 1997, Heft 4) ihre Überlegungen. Sie setzen auf die Intention: „Erschrecken muss in Verstehen, Verstehen muss in Verändern übergehen“ und wehren von Anfang an der Überzeugung, Gewalt im Namen der Religion sei „naturbedingt“. Sie soll nicht geleugnet oder schwärmerisch überspielt werden. Es geht darum, gerade die religiösen Traditionen der Gewaltüberwindung freizulegen, den prophetischen Zorn gegenüber der Gewalt zurückzugewinnen. Was die Rolle der Religionen betrifft, so geht es darum, zwischen der menschenbefreienden oder menschenbedrohenden Beziehung zu Gott klar festzuhalten, dass die (von Gott) bevorzugte Stelle der Gottesbegegnung das Angesicht des leidenden Menschen ist.

Mit gleicher Entschiedenheit wie die Vertreter der katholischen Welt im „Concilium“ ihr energisches Nein zur Gewalt aussprechen, formuliert Landesbischöfin Margot Käßmann im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen: „Einerseits ist Gewalt das Ethos unserer Tage. Gleichzeitig gibt es eine wachsende Wahrnehmung, dass der Kreislauf der Gewalt gebrochen werden muss, um das Leben auf der Welt zu erhalten. Die Kirchen könnten eine führende Rolle darin spielen, Gewaltfreiheit als eine Lebensmöglichkeit aufzuzeigen. Das wäre ein Weg der Nachfolge, der darum ringt, die tägliche Zerstörung von Gott geschaffenen Lebens zu beenden“. So heißt auch ihre Arbeit zur Dekade des Ökumenisches Rates der Kirchen „Gewalt überwinden“(Hannover 2000). Sie entfaltet darin die Themen „Gewalt und Gewaltfreiheit in der Bibel“, „Frauen, Jugendliche und Kinder“, „Die Kampagne ‚Friede für die Stadt’“ und „Perspektiven für die Ökumenische Dekade“. Zielpunkt ihrer Überlegungen ist, mit Jan Philip Reemtsma, für ein „zivilisatorisches Minimum“ des Zusammenlebens der Menschen in dieser Welt zu arbeiten und diese Welt, mit Ernst Lange, als eine „verbesserliche Welt“ anzusehen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Gewalt gegen Frauen, wobei sie die Duldung vor allem sexueller Gewalt als Sünde bezeichnet.

Erwähnen wir noch als dritte und sehr temperamentvolle Stimme die von Dorothee Sölle in ihrem Band „Gewalt – Ich soll mich nicht gewöhnen“ (Düsseldorf 1994). Auch sie plädiert für die Unterbrechung der Gewaltkette, gestärkt durch die prophetischen Traditionen und die Erinnerung an den gewaltfreien Jesus von Nazareth. Ein Mensch, der Folter und Erniedrigung erleidet, reagiert in den letzten Augenblicken seines Lebens auf das Mitleid der Frauen von Jerusalem (Lukasevangelium 23,28), indem er ihnen sein eigenes Mitleid zuruft.

Wenn es berechtigte Gründe gibt für die Hoffnung, dass Gewalt im Namen der Religion nicht das letzte Wort hat, wovon die drei Stimmen überzeugt sind, dann müssen die Quellen für Heilung und Wandlung unserer Gewalttradtionen aus der biblischen Überlieferung gewonnen werden. Drei Aspekten gehen wir nach: Noch immer unvertrauten Traditionen des biblischen Gottesbildes, dem sozial-politischen Zusammenhang von Gewalt in den Religionen und endlich dem gewaltfreien Entwurf des messianischen Reiches.

I. Zorn, Gewalt und Leidenschaft – der biblische Gott

Seit wann ist der „liebe Gott“ eigentlich lieb? Besitzer wild aussehender Hunde sagen regelmäßig angesichts deutlicher Furchtsamkeit anderer Menschen: „Die sind lieb, die tun nichts!“. Liebe ist hier zur anspruchslosen, ungefährlichen Harmlosigkeit geworden. Übertragen wir das für einen Augenblick auf die Rede vom „lieben Gott“, so sind wir Welten von der Welt der Bibel entfernt. Vom lieben Gott ist selten die Rede – er streitet glühend, kämpft leidenschaftlich, zürnt in heiligem Eifer – Hass, Rache, Eifersucht, Kummer, Jubel, Zärtlichkeit sind ihm nicht fremd. „Der ist lieb, der tut nichts“ ist ein fürchterlicher Satz, bezieht man ihn auf Gott. Auch wohlmeinende Pädagogen bringen mit diesem Gottesbild vom „lieben Gott“ einen Märchenbuchonkel (Wolfgang Borchert) ins Kinderleben, der sich mit der ersten Schreckenserfahrung für immer verflüchtigt. Darüberhinaus ist das Bild einfach falsch: Gott ist gerecht, mächtig, treu, langmütig, zornig, stumm, enttäuscht, wahr – aber „lieb“? Er ist auch gewaltvoll, aber„Gewalt“ als Wort ist doppelsinnig: Gott lässt seine Gnade „walten“, kann aber seinen Zorn „gewaltig“ werden lassen. Die Bibel kennt „Sinn“ und „Gegensinn“, „Ordnung“ und „Gegenordnung“ im Wort „Gewalt“. Irdische Gewalten werden entmachtet, aber im Gottesknecht (Jesaja 53) wird eine Gestalt göttlicher Gewalt sichtbar, die Könige zum Schweigen bringt – ohne Krieg, ohne Macht. Zu den heftigsten Texten des leidenschaftlichen Besitzanspruches Gottes an sein Volk gehört das 5. Buch Mose, in dem das zarteste Bild zu finden ist: „Er behütete ihn wie seinen Augapfel“ (V. 32, 10) wie auch die unduldsamsten Einschärfungen: „Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer und ein eifernder Gott“ (4, 24). Das Fluchkapitel 29 zittert und dröhnt vor heiliger Wut – Werben, Ringen, Sorge, Entttäuschung, Drohung, kurz, alles, was Liebende sich antun können wird hier heftig vorgebracht.. Dieser „gewaltige Eifer“ kann bedrohlich und wohltuend sein, weil das Wort „eifern“ nicht einseitig negativ in der Bibel gebraucht wird.

Aber wie steht es bei dieser stürmischen Ausschließlichkeit ( 1. Gebot!) mit der Toleranz? Der Bekenntnissatz von der Einheit und Einzigkeit Gottes will zur Entscheidung drängen – in Katastrophen wie Aufbrüchen; er will Antwort auf Zuwendung, auf Einladung, auf Werben, auf Bundesversprechen, auf „namentliche“ Nähe. Das ist ohne jede Parallele in der Religionsgeschichte! Das Bekenntnis „Du bist einzig!“, ist eine Liebeserklärung, kein theoretischer Lehrsatz, meint keine Sache, sondern eine Beziehung! Und diese Beziehung will die Wahrheit eines Lebens sein. Hat „Toleranz“ die Suche nach der Wahrheit zum Ziel oder ist sie mittlerweile die Idee von der Koexistenz kontroverser Standpunkte geworden und damit im Grunde Gleichgültigkeit und Zynismus. Die Gewalt gegen Fremde, der Hass auf Andersdenkende hat genau diese Suche nach der Wahrheit, dies Ertragen anderer Wahrheiten aufgegeben. Natürlich gibt es Grenzen der Toleranz, Grenzen des Gelten-Lassens! Die Barmer Erklärung in direkter Aufnahme prophetischer Ausschließlichkeit hat so formuliert, der immer aktuelle Satz „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon!“ ist eindeutig (Matthäusevangelium 6, 24), die Geschichte vom „Goldenen Kalb“ und alle Prozesse der frommen Anpassung fordern sie. Die stürmische Ausschließlichkeit Gottes will nicht die tolerante Suche nach der Wahrheit verbieten und das Zusammen-Leben, das mutige Miteinander-Teilen, verhindern – umgekehrt ist sie eine Aufforderung, falsche Götter zu verlassen und in den Wettstreit um die Wahrheit unseres Lebens einzutreten: Was soll gelten unter uns?

Und der „Gott der Rache“, Quelle vieler Vorurteile gegenüber der Bibel? Zu den „Feindpsalmen“ hat Erich Zenger das Notwendige gesagt ( Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994), in dem er auf die anhaltende Bitte der Beter hinwies, Gott möge doch ihre Sache in die Hand nehmen und dem entsetzlichen Ungerechtigkeitschaos dieser Welt wehren, ja, er möge um seines Namens willen endlich eingreifen und die Welt wieder zu-Recht-bringen. Die Rede von der Rache und dem Zorn Gottes sagt zuerst etwas über den Zustand der Welt aus, wie ihn die leid- und zeitempfindlichen Psalmbeter ertragen müssen. So erflehen sie sowohl die Gewalt Gottes als auch das Ende der Gewalt, „sie decken das Gewaltpotential als Realität des menschlichen Zusammenlebens auf und schreien nach Veränderung und Hilfe…nicht diese Psalmen sind das Ärgernis und die Provokation, sondern die Menschen und ihre Welt sind das Ärgernis. Weil dies so ist, braucht es diese Psalmen. In ihnen wird Gott selbst mit diesem Ärgernis konfrontiert“, sie stehen neben anderen Texten der Bibel, „die Gewalt als Reaktion auf Gewalt bekämpfen, vom Gewaltverzicht als Weg zur Überwindung von Gewalt reden, ja sogar vom Ende der Feindschaft durch das Kommen des Gottesreiches der Gerechtigkeit und des Friedens träumen.“ (Zenger, 162f.) Noch einmal: Biblisch ist der Ruf nach Rache ein Protestschrei gegen das Unrecht in einer gestörten Weltordnung, eine Hoffnung der Unterdrückten.

Am Ende dieses Gedankengangs das Unvorstellbare: „Mitten im Terror von Auschwitz wäre eine Legion wohlunterrichtete Alliierter oder eine Legion Engel erschienen, hätte die Wachmannschaften der Konzentrationslagers samt den Folterern und Mördern überwältigt und wäre mit ihnen – ungeachtet des mit nichts vergleichbaren Grauens – nach dem Kriegsgesetz des Deuternomiums verfahren: ‚Du sollst alles, was darin männlich ist, mit der Schärfe des Schwertes schlagen…nichts sollst du am Leben lassen, was Atem hat, sondern den Bann sollst du an ihnen vollstrecken’ (20,13,16f). Müsste uns nicht wie selbstverständlich das Rachelied Israels als das allein Angemessene erscheinen: ‚Ja, es gibt noch ein göttliches Gericht auf Erden!’“ ( so Walter Dietrich und Christian Link in den „Dunklen Seiten Gottes“, Neukirchen 1995, 2o1f.). Alle Texte haben Kontexte…und es ist schwer gut zu sein.

II. „Ich soll mich nicht gewöhnen“ – Religion und Gewalt

    Ich soll nicht morden
    Ich soll nicht verraten
    Das weiß ich
    Ich muss noch ein Drittes lernen
    Ich soll mich nicht gewöhnen

    Denn wenn ich mich gewöhnen
    Verrate ich die, die sich nicht gewöhnen
    Denn wenn ich mich gewöhnen,
    morde ich die, die sich nicht gewöhnen
    an das Verraten
    und an das Morden
    und an das Sich-Gewöhnen

    Wenn ich mich auch nur an den Anfang gewöhne
    fange ich an
    mich an das Ende zu gewöhnen

Erich Fried

„Wohnen“ und „sich gewöhnen“ haben im Deutschen die Grundbedeutung von „sich einrichten, zufrieden sein, dableiben, ein- und innewohnen, sich wohl fühlen, sich etwas angewöhnen“ – am intimsten ausgedrückt in dem alten Wort „einander beiwohnen“. . „Entwöhnung“ dagegen ist heftigster Bruch mit dem Vertrauten, Gewünschten. „Sich etwas abgewöhnen“ ist der manchmal erfolglose, aber hartnäckige Versuch, Lebensweisen zu ändern.

Wer in religiösen Bindungen, erlernten oder übernommenen, lebt, hat sich eingewöhnt im Haus seiner Überzeugungen, hat sich eingerichtet mit seinen Gottes-, Welt- und Menschenbildern. So gehört z.B. der Kampf zwischen Gut und Böse eng zu religiösen Traditionen. Und er ist immer mit Gewalt verbunden. Die Identifizierung mit dem Guten und Wahren diente in der Religionsgeschichte für mannigfache Rechtfertigung von Gewalt, von Kriegen und Eroberungen bis zur Inquisition in vielerlei Gestalt. Davon haben Politik – auch die Stasi – und in extremer Form am Ende die Wirtschaft gelernt. Gehört zur religiösen Tradition, an die ein Mensch sich gewöhnt hat, auch die Expansion, christlich gesprochen die Mission, so erzählt deren Geschichte von schweren Gewaltvorgängen. Evangelisierung in Afrika und Lateinamerika trägt grausame Züge von Eroberung, Gewalt bis hin zur Versklavung.. Heilige Kriege, Kreuzzüge sprechen eine gewalthaltige Sprache. Ist es in der Gegenwart anders? Die Auseinandersetzungen im Nahen Osten, die Feindseligkeiten in Irland, die Gewaltexplosionen im ehemaligen Jugoslawien – das sind Kriege religiöser Kulturen, es wird gehandelt im Namen Gottes, im heilig sterbensbereiten Eifer. Fundamentalismus und Sektierertum verwandeln ganze Regionen in brennende Landschaften…Das Elend besteht oft in der religiösen Interpretation sozialer und wirtschaftlicher Vorgänge, denn die Religion garantiert die „Zugehörigkeit“ zu Gruppen und Staaten. Der religiös geprägte Zugehörigkeitssinn bestimmt Feindseligkeiten in Sri Lanka und Ruanda wie in Serbien und Kroatien, Algerien, Mexiko, Indien oder Irland.

Viele Menschen haben sich seit Generationen an diesen Zusammenprall der religiösen Kulturen gewöhnt. Das kann so weit gehen wie ein Missionar es formulierte: „In der Hölle gibt es keine Teufel mehr, sie sind alle in Ruanda“. Eine Million Tote binnen dreier Monate, und doppelt so viele aus ihren Häusern vertrieben…. Das schreckliche Bild des Missionars ist noch zu schwach: Da gibt es erstens weit mehr Teufel auf dem Erdball und zweitens warten weitere Dämonen auf ihren Einsatz: Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Slumbildung, Bildungsrückstand, schwindende Ressourcen, wachsende Ausgrenzung – der reiche Prasser und der arme Lazarus entfernen sich noch rapider von einander, so dass der Sprecher des UN- Entwicklungsprogramm konstatieren kann, in bezug auf die Armut seien wir im Begriff den Schritt „von der Ungerechtigkeit zur Unmenschlichkeit“ zu machen. Dieser Schritt wird von Gewalt begleitet und häufig von traditioneller Religiosität legitimiert. Ökonomischer und religiöser „Fundamentalismus“ sind sich darin einig, dass der status quo als absolut unantastbar, heilig und unberührbar anzusehen ist.. Ihn mit Gewalt zu verteidigen wird religiös gerechtfertigt. Und auch daran haben sich viele Gesellschaften gewöhnt. Und auch wir, die wir direkt weder Täter noch Opfer sind, haben uns als Zuschauer daran gewöhnt. Ob wir indirekt mit unserem Wirtschaftssystem doch beteiligt sind, mag die Gewöhnung, die unseren Lebensstandard fundiert, noch begünstigen.

Fassen wir zusammen: Die Überlegenheitsgefühle wie die Unterdrückungserfahrungen von Gruppen und Völkern werden häufig religiös formuliert und erweisen sich als größte Hindernisse für ein menschliches Zusammenleben. Das „Gott mit uns“, die „Auserwählung“, „die Krieger Gottes“, „die absolute Wahrheit“ fördern keine menschenwürdigen Begegnungen. Wenn der Anspruch einer Religion, die einzig wahre zu sein und die eigene Religion die erste Bürgerpflicht ist, dann wird jeder „andersdenkende“ Mensch staatsgefährdend. Und wenn die eigene Religion die direkte Garantie für das Wohl der menschlichen Gesellschaft verbürgt, wird jeder „andershandelnde“ Mensch zum Ketzer. Immer geht es bei religiöser Gewalt um die Aufrechterhaltung des Zusammenhangs von Gottesbild und einer gesellschaftspolitischen Ordnung auf Erden, die kann etabliert oder revolutionär sein. Wenn an die Stelle eines Gottesbildes ein Weltbild tritt und wird dies politisch-ideologisch umgesprochen enthüllt sich das ganze Elend von neuzeitlichen Diktaturen und Verfolgungen, von Antisemitismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit, Hass auf „Andere“ und Bedrohung der Kleinen und Schwachen, Obdachlosen und Behinderten. Deshalb bedarf jede Bearbeitung von Gewaltstrukturen zuerst einer religiösen Selbstklärung: Wo liegt die Quelle der Gewalt? Wirkt Religion menschenbefreiend oder menschenbedrohend? Wer hat von ihr gelernt? Ist sie „gewöhnend“ oder reißt sie mich aus allen Gewohnten heraus? Erzählt sie auch von einer „Kontrastwirklichkeit“? Weiß sie, dass das, was ist, nicht alles ist?

„Wer unter euch der Größte sein will, sei euer aller Diener“ – würde ein Papyrusfetzen mit nur diesem Satz allein( Markusevangelium 1o,43) im ägyptischen Wüstensand gefunden, es wäre der stärkste Einwand gegen die Behauptung, Gewalt im Namen der Religion sei rechtens. Was auch immer anderes gesagt oder getan wird in Sachen Größe, Macht, Vorherrschaft, Absolutheitsanspruch, Leitkultur, Führung, Überlegenheit – „ich soll mich nicht daran gewöhnen“.

III. Wolkensäule und Feuerschein

Zu den Urerfahrungen Israels gehört die von Gott geschenkte Befreiung aus dem Gewaltapparat des Königs von Ägypten. Damit ist Israel in die Wiege gelegt worden, dass der Gott vom Sinai alle Formen von Gewaltherrschaft von Menschen über Menschen zutiefst verabscheut und immer auf der Seite derer steht, die sich um den Abbau versklavender Gewalt mühen (Er weist den Freudenjubel über die getöteten Ägypter beim Passahfest scharf zurück!). Und dennoch etablierte sich in Israel ein Königtum. Und so lange es existierte, wurden seine Gewaltstrukturen kritisiert – in unterschiedlichen Formen: Die Erzähler malten den schmarotzenden Funktionärsnapparat, das bedrückende Abgabensystem, den Gewaltmissbrauch in den schärfsten Farben. In der Jotamfabel (Richterbuch 9) brauchen Öl, Wein und Feigen keinen König, das hindert sie, produktiv zu sein. Der Dornstrauch, verwundend und unproduktiv in den Augen einer Bauerngesellschaft, will König werden – typisch, er bringt nicht einmal bergenden Schatten, will aber König werden! Die Propheten kritisierten, dass Gewalt und Krieg keine Mittel sind, mit denen Gott in dieser Welt herrschen will. Sie greifen ahnend, tastend, voranhoffend zu anderen, zur Gegenwart kontrastierenden Bildern. Und die Theologen der Befreiung erzählen in der Auszugsgeschichte von Gott im Kontrast zur umgebenden Wirklichkeit: „Im Dunkel der Nacht wird er erkennbar in einer Feuersäule, in der Helligkeit des Tages dagegen als dunklere Wolke“, Jürgen Ebach sinnt über dies Bild (im Themaheft des „Merkur“ 1999) nach und erkennt darin, dass Gott als eine „Gegenerfahrung“ in den Blick kommt. Er ist nicht der Garant dessen, was ist; er wird wahrgenommen im Kontrast zum jeweils Gegebenen. „Und weil, was ist, nicht alles ist, kann das, was ist, sich ändern“, so Ebachs ermutigendes Fazit. Es ist wahr: von der „Macht des Schicksals“, von Fatalismus, von dem ewigen „Das ist einfach so“ spricht die Bibel an keiner Stelle, Mensch und Schöpfung haben ein Recht, andere zu werden. Die kürzeste Definition von Religion könnte dann sein „Unterbrechung“ . Nicht weitermachen, innehalten, sich besinnen, umkehren, Alternativen bedenken, den Kontrast beginnen. Im Namen „Hebräer“ (ivri) klingt das Verb (avar) mit, nämlich „überschreiten“. Ob sich dies „überschreiten“ nicht von Anfang gegen die Vorstellung wendet, dass das, was ist, nun einmal so ist? Die Bibel erzählt davon, dass und wie Gott nicht nur ändern kann, was ist, sonderen dass und wie er auch sich ändern kann, wie er Reue zeigt und das Verhängnis über Ninive umdrehen kann und auf Gewalt verzichtet – für Jona ein ziemliches Problem: Sollte Gott nicht bei gerechtfertigter Strafgewalt bleiben? Und dann diese Langmut und Liebe? Die Bibel erzählt, wie das Volk aus dem Gewaltapparat Ägyptens auszieht, „tags in einer Wolkensäule, nachts in einer Feuersäule“ – warum ist das so? „…damit sie tags und nachts gehen konnten“.

VI. „Da wird Gast sein der Wolf beim Lamm…“

Am Ende einer lang erlittenen Gewaltgeschichte mit seinen Königen tastet sich im babylonischen Exil eine Vision in die Gespräche der Verbannten aus Israel: Auf die bange Frage, ob Gott nach der Zerstörung des Landes, des Königshauses und des Ortes, an dem er sein Wort wohnen lassen wollte, nun auch seinen Bund mit Israel gelöst habe, heißt es programmatisch: „Denkt nicht mehr an das, was früher war, auf das, was vergangen ist, achtet nicht. Denn ich erschaffe jetzt etwas Neues. Schon wächst es heran, merkt ihr es nicht?“ (Jesaja 43, 18f.) Jetzt beginnen die vielgesichtigen, vielgestaltigen Träume von einer messianischen Zeit. Nun sprechen die Propheten von der Gabe eines wundervoll aufbrechenden Lichts für ein Volk, das im Finstern sitzt, dieses Licht ist wie eine überraschend reiche Ernte. Worin besteht der Reichtum dieser Ernte? Die großen Geißeln der Menschheit wie Sklaverei, Krieg und Gewalt werden nicht mehr sein! Recht und Gerechtigkeit sind das Fundament eines neuen Königtums. Die Instrumente der Gewalt, die Folterwerkzeuge der Sklavenhalter, die Blutwerkzeuge der Militärs, werden nicht mehr gebraucht. Diesem neuen König wird es gelingen, aufkommende Gewalt zu verhindern, nicht mit einem Stab aus Eisen, sondern mit dem Stab seines Mundes. Das Ende der Gewalt ist so umfassend, dass kein Lebewesen mehr ein anderes bedroht oder auf seine Kosten leben muss.

Der Traum einer neuen und anderen Welt greift zum Modell des Tierfriedens (Jesaja 11)

    Da wird Gast sein der Wolf beim Lamm und der Leopard wird beim Böcklein liegen;
    Kalb und Junglöwe werden zusammen stark werden und ein kleiner Junge führt sie zusammen auf die Weide,
    der Löwe wird Stroh fressen und der Säugling vergnügt am Loch der Kobra spielen,
    nach der jungen Viper streckt das kleine Kind seine Hand aus…

Die Feindschaft zwischen Schlange und Mensch ist überwunden, Löwen reißen nicht mehr, Raubtiere und Haustiere grasen zusammen – eine Zukunft, die von der Gegenwart radikal geschieden ist. Es geht um die Umkehrung aller Erfahrungen: „Da wird der Wolf Gast sein beim Lamm“ – Nicht der Gewalttätige wird überwunden, sondern die Gewalt, nicht der Feind wird überwunden, sondern das Feind-Sein! Wäre das schwache Lamm Gast beim starken Wolf , dann würden die Gewaltverhältnisse nur gemildert und idealisiert, nein, es geht um den Kontrast zu allen bisherigen Normen. Das Schwache wird aufgerichtet und kommt zu seinem Recht und wird nicht auf einen nun guten Wolf verwiesen.

Aber noch sind wir nicht beim radikalsten Zug des Traumbildes angekommen: Wenn vom freundlichen Zusammenleben von Kindern und Schlangen erzählt wird, kommt eine Konversion in den Blick, eine Umkehrung, die das Symbol des Menschenfeindlichen schlechthin meint: die Erbfeindschaft zwischen Mensch und Schlange ist aufgehoben! Frieden nimmt nicht Gestalt an, wenn das Gewalttätige und Aggressive vertilgt ist, sondern wenn es verwandelt ist zum Nicht-mehr-Feindlichen. Hier gehtr es von der gewalttätigen Vernichtungsbereitschaft über zur gewaltfreien Verwandlungshoffnung. Die Hoffnung auf den eigenen Sieg wird „überschritten“ und das Ende des Siegen-Müssens erhofft.

Nicht, ob der Löwe „wirklich“ Stroh fressen wird, ist unser Problem heute, sondern welche Praxis dieser gewaltfreien Friedenshoffnung entspricht. Gegenüber der Frage „Welche Praxis entspricht dieser Hoffnung?“ erscheint die Frage der Realisierung fast nebensächlich. Dies ist die Geburtsstunde der biblischen Humanität: Von der Hoffnung auf den eigenen gewaltigen Sieg zur Hoffnung auf das Ende des Siegen-Müssens. Nicht die gewalttätige Ausrottung des Wolfes wird erhofft, sondern seine Verwandlung in einen gewaltfreien Gefährten des Lammes. Nicht dass Israel von dem Wunsch nach eigener Überlegenheit über den Gegner immer gefeit wäre – seine Geschichte rät ihm, aufmerksam zu bleiben – entscheidend ist, dass es in Israel möglich, diesem Gewaltdenken nicht verhaftet zu bleiben und an einer Gerechtigkeit zu arbeiten, die der Schöpfung „gerecht“ wird.
Im Fortgang der Bibel wird vom Rande des römischen Gewaltreiches eine Gegengeschichte erzählt von einem Kind in einem Stall, das den größten Kontrast darstellt zum Kaiser in Rom. Und diese Geschichte hält wieder fest, dass die gegebenen Verhältnisse nicht die gottgebenen Verhältnisse sind…Es gibt zwei Gefahren für dies Hoffen und Arbeiten zum Reich Gottes hin: Es kann einmal denunziert werden im Rahmen der sog. Realität, etwa in dem Sinne: Das, was ist, ist alles und zwar unveränderlich. Und wer es angreift, bekommt es mit der jeweiligen religiösen oder politischen Gewalt zu tun. Die zweite Gefahr ist nicht geringer: Sie besteht darin, den Traum, die Utopie, als eingelöst, als erfüllt auszugeben. Und wer das bezweifelt, bekommt es mit der religiösen oder politischen Gewalt zu tun…Der Traum vom gewaltlosen Reich Gottes gehört zum biblischen Realismus, der weiß, dass viele Reiche uns einladen, einzutreten, das Gebet aber lautet: Dein Reich komme!

    Leseempfehlung: Walter Dietrich, Wolfgang Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von
    Gewalt heilen, Kohlhammer Verlag Stuttgart 2004
    Wolfgang Huber, Die tägliche Gewalt, Herder Verlag Freiburg 1993