Es war ein denkwürdiges Schauspiel Ende Juni in Gotha: Da wurde um 12.00 mittags eine 110 Meter lange Tischreihe vom Rathaus aus durch die Innenstadt bis zum Hospital im Brühl gedeckt. Jeder war zum Mittagessen eingeladen. Es war eine von katholischen und evangelischen Gemeinden vorbereitete Erinnerung an Elisabeth von Thüringen, die vor 800 Jahren ihr Leben in den Dienst der Barmherzigkeit gegenüber den Armen gestellt hatte. Der Ehemann Elisabeths hatte der Stadt Gotha ein Armenhospital geschenkt – heute können wir hier an einem langen Tisch gemeinsam Mahl halten und für eine Mittagsstunde die Hoffnung auf ein Leben ohne Hunger festhalten. Und weil die Hoffnung Feinde hat, nämlich die Niederlagen, die uns das Leben zufügt, brauchen wir Zeugen für diese Hoffnung. Wir erinnern uns der Menschen, in deren Leben nicht Verrat, Niederlage und Schwäche über die Hoffnung triumphiert haben.
Wer war diese Elisabeth von Thüringen? 1207 kam sie als Tochter des Königs von Ungarn in Sarospatak zur Welt. Aufgrund politischer Interessen wurde die kleine Königstochter an den Hof des mächtigen Landgrafen von Thüringen auf die Wartburg hoch über Eisenach gebracht. Elisabeth wird als schwarzhaarig und zierlich beschrieben, mit schmalem, bräunlichen Gesicht und dunklen, lebhaften Augen und sehr temperamentvoll – sie muss ein anmutiges Kind gewesen sein und kam in eine Welt, die erfüllt war von Brand, Mord, Gewalttat, Hunger, gepeinigten Menschen und der völligen Ratlosigkeit der Armen. Vierzehnjährig heiratet sie den 21jährigen Landgraf Ludwig. Die Ehe war zärtlich und glücklich. Sie brachte in rascher Folge eine Tochter und zwei Söhne zur Welt. Mit ausdrücklicher Zustimmung ihres Mannes richtete sie am Fuße der Wartburg ein Hospital ein, wo täglich 900 Arme gespeist wurden. Als ihr Mann nur sechs Jahre nach der Hochzeit stirbt, ist sie bis auf den Kern ihres Lebens erschüttert, verlässt das selbstherrliche Hofleben, lebt als Arme unter den Armen und Schwester der Ausgestoßenen, der vom Elend Zerstörten, der Unerträglichen – eine befremdende, eine bestürzende Existenz. Sie stirbt völlig erschöpft unter elenden Umständen mit 24 Jahren. Wir dürfen die Blätter der Legende, die sie umrankt, nicht knicken, sie sind zu liebevoll um sie geschlungen, wohl aber müssen wir sie ein wenig zur Seiten biegen, um auch die Ärgernisse zu sehen, die sie den Zeitgenossen bereitet hat. Und endlich das Ärgernis wahrzunehmen, das sie geblieben ist – für uns heute, nach 800 Jahren.