Das Vorurteil
An dem Vorwurf gegen die Juden, ihre Tora würde das Talionsprinzip „Auge um Auge…“ als wörtlich zu nehmende Aufforderung zur Vergeltung gebieten, hat sich langem die antijüdische Einstellung von Christen besonders festgemacht – ein verhängnisvoller Verstehensfehler. Die Formel hat sich längst vom Bibeltext gelöst und ist umgangssprachlich zum festen Begriff für Rache, Zurückschlagen und Gewalteskalation geworden. Die Medien verwenden ihn automatisch bei Vergeltungsfällen – häufig mit Anklängen an „alttestamentarisch“ und andere mit dem Judentum verbundene Assoziationen. Wenn sprachliche und damit tief im Unterbewusstsein gegründete Judenfeindschaft noch besteht, so ist sie hier und bei anderen Begriffen wie „pharisäerhaft“, „Gott der Rache“, „Judas“, „gesetzlich“, „auserwählt“ zu finden. Dumpfer Antisemitismus mag geschwunden sein, alte Vorurteile halten sich hartnäckig.
Argumente
1. „Es ist gar nicht so ausgemacht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, dass die lex talionis, das Vergeltungsgesetz im 2. Buch Moses 21,24-25 und 3. Buch Moses. 24,19-20 so ‚primitiv’ ist wie oft behauptet wird. In einer wirklich primitiven Gesellschaft gibt man seinen Gefühlen freien Lauf und übt gefühlsmäßig Rache – wobei es dann nicht so genau darauf ankommt, ob die Rache zu ‚einem Auge für eine Auge’ oder zu ‚einem Leben für ein Auge’ führt. Da bedeutet das Vergeltungsgesetz der Bibel schon einen gewissen Fortschritt, denn es läuft darauf hinaus, die Strafe nicht schwerer als das Verbrechen zu machen.
Dennoch wurde selbst das biblische Gesetz von den Pharisäern und ihren Nachfolgern, den Rabbinen, nicht wörtlich verstanden, sondern als Verordnung, dass der Täter dem Geschädigten eine Wiedergutmachung zahlen muss. Die Mischna ( = Mündliche Lehre, um 200 u.Z.) konstatiert ganz einfach: ‚Wer seinen Nächsten verwundet, ist ihm fünf Dinge dafür schuldig: Schadensersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Entschädigung für Versäumnis der Arbeit und Strafgeld für die Beschämung’ (Mischnatraktat Baba Qama 8,1).“ (1)
2. Die sprachliche Gestalt der Wendung in der Hebräischen Bibel schließt die Deutung einer austauschbaren Gleichwertigkeit aus; es ist also sprachlich nicht möglich, „Auge um Auge“ im Sinne von „Gleiches für Gleiches“ zu verstehen. Der Urtext lautet: „Wenn aber Lebensgefahr droht, so gin Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (2. Buch Moses 21,23f.). Nicht vom Geschädigten ist hier die Rede, der Rache oder Vergeltung nehmen soll, vielmehr vom Schläger, der vor dem Richter Wiedergutmachung leisten muss. Das Schlüsselwort in der hebräischen Bibelstelle – „tachat“ – heißt überhaupt nicht „um“ oder „für“, sondern „anstelle von“. Daher übersetzen Martin Buber und Franz Rosenzweig den Text im 2. Buch Moses 21, 23-25 korrekt:
„Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebensersatz für Leben – Augersatz für Auge – Zahnersatz für Zahn – Handersatz für Hand – Fußersatz für Fuß – Brandmalersatzu für Brandmal – Wundersatz für Wunde – Striemenersatz für Striemen“.“
Die Regel „Maß für Maß“ wird zum Rechtsprinzip der Geldentschädigung und des Schmerzensgeldes in allen Fällen von Körperverletzung erhoben. Nur in diesem Sinne der Abgeltung durch Schadensersatz wurde dieser Bibelvers im Judentum schon lange vor Jesus verstanden und angewandt. Die Hebräische Bibel begrenzt dadurch das Verlangen nach Vergeltung auf das Ausmaß des erlittenen Schadens. Dies bezieht sich auf jeden Menschen, mit dem man im Umkreis des Zusammenlebens jeweils unmittelbar zu tun hat, auch der Fremde ist darin inbegriffen (3. Buch Moses 19,33). (2)
3. Zu welchem Zeitpunkt in der israelischen Geschichte die Regel „Auge für Auge“ zum ersten mal nicht mehr wörtlich verstanden wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass dieser Umschwung lange vor der biblischen Epoche stattgefunden haben muss, da aus dieser Epoche, die immerhin ein Jahrtausend dauerte, auch nicht ein einziger Fall wörtlichen Verständnisses von „Auge um Auge“ auf uns gekommen ist. Darum wird uns nicht nur für immer verborgen bleiben, wann, sondern auch wie sich der Übergang vom wörtlichen Verstehen zur Ersatzleistung vollzogen hat: ob allmählich oder plötzlich, ob aus humanitären oder praktischen Erwägungen, ob unangefochten oder unter heftigen Debatten. (3)
4. Auch wenn Josephus (um 70 u.Z.) von einer Auseinandersetzung zwischen Sadduzäern und Pharisäern über das Verständnis von 2Auge um Auge“ berichtet – erstere waren nach seiner Darstellung für die wörtliche Interpretation – so ist auch aus jener Zeit kein der Anwendung überliefert, so dass angenommen werden kann, dass diese Diskussion eine rein theoretische über das Verständnis der Tora war. (4)
Folgerungen
Der Vorwurf gegen Juden, ihre Lehre huldige der Vergeltungsmoral, ist unbegründet. Wer ihn aber weiter gebraucht, um damit die im Judentum angebliche herrschende „gnadenlose“ Vergeltung zu brandmarken, tut das nur, um auf diese Weise ein überkommenes negatives Vorverständnis vom „Alten“ Testament sowie vom Judentum wahren zu können und es so immer wieder in seine gegenüber dem „Neuen“ Testament und dem Christentum untergeordnete Stellung zu verweisen – die Fortsetzung einer mörderischen Geschichte.
1.)Jakob J. Petuchowsky, Wie unsere Meister die Schrift erklären, Beispielhaftre Bibelauslegung aus dem Judentum, Freiburg 1982, S.58
2)Pinchas Lapide, Ist die Bibel richtig übersetzt?, Gütersloh 1986, S. 68
3)Yehuda T. Radday, Auf den Spuren der Parascha (Bibelkommentare), Frankfurt a.M., 1991, S.52
4)ebenda
Der Text ist entnommen dem Band: Lohrbächer, Ruppel, Schmidt, Was Christen vom Judentum lernen können, Kohlhammer Verlag Stuttgart 2006, S. 93f.