Mitten in Paris steht ein großes Haus. Es ist die öffentliche Informationsbibliothek der Stadt. Man benötigt weder Ausweis noch Eintrittskarte, um Einlass in die menschenfreundlichste, abwechslungs- reichste, freieste Bibliothek der Welt zu erhalten. Auf die Besucher – am Tag sind es im Durchschnitt 6300 – warten mehr als 350 000 Bücher, 2500 Zeitschriften und 150 Tageszeitungen aus der ganzen Welt. Gut gelaunt verspricht die Bibliothek, hier fände man nicht „alles über etwas bestimmtes“, sondern „etwas über alles“. Eine wunderbare, riesige, freiheitliche – Arche! Arche ist in der Bibel jener große Kasten, jenes schwimmende blockhausartige Wohnfloß, in das Noah mit seiner Familie und Vertretern aller Lebewesen sich rettete, als die Wasser der vernichtenden Sintflut zu steigen begannen.
In der hebräischen Sprache heißt die Arche oder der Kasten „teva“, auch das Schilfkästchen, in dem Moses gerettet wird, heißt „teva“. Seltsamerweise heißt „teva“ aber auch „Wort“. So werden also mit „teva“ das Wort, aber auch der Kasten, das Boot, die Arche bezeichnet. Aus diesem klingenden Zusammenspiel – teva für Arche wie für Wort – hat ein Pariser Bibelwissenschaftler die Erkenntnis geschöpft: „Um der Gewalt, etwa der Sintflut, zu entkommen, braucht man in kein Boot zu steigen, man braucht bloß in ein Wort einzutreten“.
Eine glänzende Beobachtung! Bleibt nur die Frage: Wie und wo und vor allem in welche Wort-Arche eintreten?
In Paris treten die Mühseligen und Beladenen, die Einsamen und Obdachlosen in die Bibliothek ein, in die Arche der vielen Worte und Bücher. Einige sind auf der Suche nach einem Obdach für den Tag, Schutz vor Kälte, Hitze, Regen und Unwetter, manche suchen Nähe anderer Menschen, viele suchen nach Verständnis und Erkenntnis. Das große Haus, die vielen Worte sind eine Ersatzarche für alle möglichen Menschen.
Das Osterfest ist vorbei – seine großen und stärkenden Worte verbinden uns mit dem ältesten christlichen Fest. In welches Wort können wir eintreten wie in eine Arche, die uns schützt vor Gefahren? In welches Wort können wir einsteigen, um der Gewalt, der in uns und der um uns, zu entkommen? Ist es das Wort „Auferstehung“? Sind es die Worte „Hoffnung“ und „Gottes Welt“? Ist es das Wort „Du“? Das Wort „Glaube“? Bleiben wir heute, einen Tag nach Ostern, aufmerksam für das Wort, in dem wir neu leben können!