Die letzte Woche des Kirchenjahres geht zu Ende, eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen. (..) Eine kühne Bilanz hat die polnische Dichterin Wislawa Szymborska gezogen. Sie ist Krakauerin, Jahrgang 1923, hat den Nobelpreis für Literatur und viele Auszeichnungen bekommen. Nun einige Zeilen aus ihrem Gedicht „Das Ende eines Jahrhunderts“:
„Zu viel ist geschehen, was nicht hat geschehen sollen, und was hat kommen sollen, kam leider nicht…Einige Unglücksfälle sollten nicht mehr geschehen, zum Beispiel Krieg und so.
Die Wehrlosigkeit der Wehrlosen, das Vertrauen und so weiter sollten Achtung genießen. Wer an der Welt seine Freude hat haben wollen, steht vor der Aufgabe, die nicht zu erfüllen ist. Die Dummheit ist gar nicht zum Lachen, die Klugheit ist gar nicht lustig, die Hoffnung ist nicht mehr das kleine Mädchen , et cetera, cetera, leider. Gott sollte endlich glauben dürfen an einen Menschen, der gut ist und stark, aber der Gute und Starke, sind immer noch zweierlei Menschen. Wie leben? fragt im Brief mich jemand, den ich dasselbe hab’ fragen wollen. Weiter und so wie immer – es gibt keine Fragen, die dringlicher wären als die naiven.“
Leicht, präzise, spöttisch, mit leiser Ironie zieht Wislawa Szymborska Bilanz – das „und so“ und „leider“ sind unaufgeregt und unangestrengt. Die Hoffnung muss erwachsen werden, sie ist „leider“ kein kleines Mädchen mehr. Und dann die verblüffende Wendung: „Gott sollte endlich glauben dürfen an einen Menschen, der gut ist und stark.“ Ob der Mensch Gott findet, ist nicht ihr Thema, sondern ob Gott den Menschen findet, den er braucht, der nach seinem Bilde ist, gut und stark, der ihm entspricht, so dass Gott „an ihn glauben“ kann.
„Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, fragte Martin Luther. Vielleicht muss die Frage ganz anders lauten: „Wie bekommt Gott einen ihm entsprechenden Menschen?“ Christen glauben, dass Jesus Christus dieser Mensch war, gut und stark. Dass es mit ihm nicht „weiter so und wie immer“ gehen muss, sondern, dass eine neue Welt anbricht. Dieser Anbruch heißt Advent.