Zu den unerschöpflichsten Liebesgeschichten gehören die zwischen Menschen und Büchern. Nur eine Diktatur wie zum Beispiel die Perons in Argentinien konnte 1950 Demonstranten skandieren lassen: Schuhe ja, Bücher nein!“. Der Gegensatz zwischen Lesen und Leben ist von den Mächtigen immer geschürt worden – der Gedenkort für die verbrannten Bücher vom Mai 1933 auf dem Berliner Bebelplatz gehört zu den eindrücklichsten der Bundeshauptstadt. Aber Lesen ist wie atmen“, sagt Alberto Manguel in seiner unvergleichlichen Bücher-Schatzkammer Eine Geschichte des Lesens“ (Berlin 1998), deshalb war auch der Slogan mancher 68er Hört mit den Zitaten auf“ als Spitze gegen akademische Zitierkartelle kurzzeitig witzig, aber das Leben des Lebens“ gegen das Leben des Buchstabens“ zu stellen, ruft mit seiner vitalistischen Willkür unangenehme Erinnerungen wach. Ob es aus der Romantik stammt, dass das Selbst sich aus sich heraus entwickeln kann und nicht von einer Buch-Autorität erzogen werden soll? Es regiert unter Studierenden (auch der theologischen Disziplin!) eine derartige Unlust dem Lesen gegenüber, dass die Lesenden fast schon wie eine aussterbende Art angesehen werden müssen. Der Teilzeitleser“, der halbe“ Leser, der gegen irgendeine Geräuschkulisse anlesende Leser, der in der Wartehalle des Flughafens sein ausgelesenes Taschenbuch achtlos liegen lässt – es wird ihn häufiger geben.
Da hat es ein Buch wie die Bibel schwer. Für Luther ist sie das Buch des Lebens“, eine konkrete Realität. Das war es auch schon früher: Der Meister des anmutigen Paradiesgärtleins“ lässt Maria 1410 in einem Buch lesen, noch früher legt Simone Martini 1333 Maria in der Verkündigungsszene ein Buch in die Hand, eine außerordentliche Tat, zumal das Buch oder die Schriftrolle ein absolut männliches Attribut war!
Um was für ein Buch handelt es sich?“, fragt Manguel, ein Stundenbuch, ein Neues Testament, ein biblisches Lehrbuch, z.B. von Frau Weisheit, die Bibel als Buch der Sehnsucht? Während der Engel zu Maria spricht, hält diese mit ihrem Daumen das Buch offen! Ist der englische Gruß“ zu einer Leseunterbrechung geworden? Das ist kühn!
Wie schrecklich von heute zu sehen, wie spätere Maler einen Seiten zerknüllenden kleinen Christus Maria auf den Schoß setzen, um seine Überlegenheit gegenüber der (das Alte Testamen?) lesenden Mutter vorzuführen…
Es gehört zu den großen Verdiensten von Ingo Baldermanns neuer Entfaltung des biblischen Buches, dass es ihm gelingt, Sehnsucht als Grundthema der gesamten Bibel zum Klingen zu bringen. Hierin trifft er sich mit den gleichaltrigen Kollegen Johann Baptist Metz, Fulbert Steffensky und Kurt Marti. Bei Metz gibt es den starken und schmerzlichen Ton des Vermissens“, den er aus den Psalmen und Propheten vernimmt, bei Steffensky die große Sehnsucht“, die ihn auf die Suche nach spiritueller Erfahrung treibt (Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2005, 9-25). Marti setzt gleich an zu einer Rühmung“, die er nur Du“ nennt (Stuttgart 2007). Ist das eine Generationenfrage? Oder ist es die theo-logische Folge eines intensiven Lebens mit den Psalmen und einer bibelgestimmten Dichtkunst? Oder ist es ein Bekenntnis derer, die nicht zu-frieden sind, mit dem, was ist; derer, die mit dem schönen Kinderbuch sich ausstrecken Es muss doch mehr als alles geben!“
Spiritualität ist als die Fähigkeit bezeichnet worden, das Reich Gottes zu vermissen. Baldermann zeigt nun, wie dieses Vermissen ins Leiden, in die Einsamkeit, in den Kampf gegen Ungerechtigkeit, in den Aufbruch ins Unbekannte und in die Sehnsucht führt:
Die Bibel ist nicht nur erfüllt von Worten der Sehnsucht, die Bibel ist ganz und gar ein Buch der Sehnsucht, ja sie ist das große Buch der Sehnsucht der Menschheit“ (141).
Das gänzlich unbeirrte Festhalten an der unabgegoltenen Verheißung, das diese vier Theologen (und Poeten) so dicht zusammenbringt, dass ihre Stimmen schon fast ineinander übergehen, ist in einem Wort zu fassen: Amen – das ist: es werde wahr!“ Damit bewahren sie auch das Neue Testament vor einem falschen Erfüllungs-Sieg-Denken! Sie ziehen die Zelte dem festen Haus aus Glorie vor! Amen – es werde wahr! Fast nebenbei nannte Friedrich-Wilhelm Marquardt amen“ einmal das wichtigste Wort der Heiligen Schrift – leidenschaftlich gerufen im Gottesdienst als Sehnsuchtsschrei der unerlösten Welt.
Ein anderes Wort beginnt in unsere christliche Sprache einzuziehen – Baldermann widmet ihm ein herzbewegendes Kapitel Adonaj“ (Annäherung, 27-45). In immer neuen Anläufen vermag er die Zärtlichkeit des Namens Gottes zum Sprechen zu bringen, dass man den ganz furchtbar erbitterten Streitern um sola scriptura“ bei der Bibel in gerechter Sprache“ die Lektüre dieser Seiten ans Herz legen möchte…Wer sich auf das zärtliche Adonaj“ einlässt, der vermag auch zu übersetzen! „Segne ihn, Adonaj, meine Seele und was in mir ist, Seinen heiligen Namen“ (Ps 103,1; 104,1). Auch hier gewinnt Baldermann die jüdische Kontur biblischen Sprechens zurück, wenn er von den Psalmen zur jüdischen Gebetsliteratur sich wendet und auf die Unterredungen“ des betenden Menschen mit Gott so hört, dass er sagen kann: Gott ist für die Bibel nicht der Bedürfnislose, der allem schlechthin Überlegene, von allem Treiben der Menschen abgehoben, sondern: leidenschaftlich liebend wartet er auf die Antwort des Menschen“ (51).
Mit biblisch-prophetischer Unerbittlichkeit redet er an gegen die Ungerechtigkeit und bringt erneut den Willen Gottes zu Gehör: Gerechtigkeit will ich“. Dies Kapitel wünschte man sich auf die Kopfkissen der G 8-Teilnehmer und in die Schlafsäcke ihrer Gegner! Wieder ist zu entdecken, dass prophetisch reden“ nicht vorhersagen, sondern hervorsagen heißt, hervorsagen, was unter die Teppiche geräumt wird in Bankenbilanzen und Börsennotierungen. Ins Alphabet der großen wieder entdeckten Worte biblischer Sehnsucht gehört auch Passa“ mit einer liebenswürdigen Entfaltung des heiter angestimmten dajjenu“, des Vorgeschmacks noch ausstehender Erlösung.
Eine ungewöhnliche Horizontverschmelzung wird hör- und sichtbar in einer für den Kirchentag entworfenen Abrahamserzählung in Ich-Form, in der Baldermann der Rühmung Martis in Du“ sehr nahe kommt mit seinem Grundton Du bist einzig. Adonaj echad.“ Der Abendmahlstisch wird für ihn mit Novalis (Hätten die Nüchternen einmal gekostet…“) zum Tisch der Sehnsucht. Und auf einmal kommt in der Stimmen-Reihen-Folge nach den leidenschaftlichen Psalmen, den sehnsuchtsvoll suchenden Liebenden aus dem Hohenlied, den gegen die Apathie anstreitenden Propheten, dem in Zweifel und Hingabe hin und her gerissenen Abraham ein Paulus in den Blick, der dem in der Nacht ringenden Jakob so nahe kommt wie kaum zuvor in einer mit Fußnoten gesättigten Dissertation zu lesen war…Folgerichtig wird das achte Kapitel des Römerbriefes auch das Schlusswort dieses erstaunlichen Buches: Die bis ins Somatische reichende Erschütterung eines Liebenden, der es sich täglich vorsagt: Nichts kann uns scheiden…“
Für Ingo Baldermanns Buch gilt, was Orhan Pamuk über das Lesen und die Bücher gesagt hat: Man kann das Leben, diese einmalige Kutschfahrt, nicht neu beginnen, wenn es vorüber ist, aber wenn man ein Buch in der Hand hält, ganz gleich, wie schwierig es zu verstehen ist, kann man am Schluss zum Anfang zurückkehren, von vorn beginnen, um das Schwierige und damit das ganze Leben zu begreifen.“
Eine Erfahrung, die Baldermann gewiss gemacht hat – dass er uns daran teilnehmen lässt, ist ein großes Geschenk!