„Wir müssen die Menschen so glücklich machen, wie wir nur können“ – das war Elisabeths Ziel. Doch vieles in ihrem Leben schien dem zu widersprechen. Sie wusch eitrige Bettler und trocknete sie ab, da wirkt sie weich auf uns; dann lässt sie einem jungen Mädchen trotz allen Flehens die schönen Haare abschneiden, da wirkt sie hart auf uns. Sie lebt im Schuppen eines Gastwirts zwischen Geräten und Viehtrögen ohne Schutz vor winterlicher Kälte; sie feiert ein überschwängliches Fest mit Kranken und Bettlern und lässt 500 Silbertaler unter sie verteilen. Und wir fragen: Kann man eine fürstliche Schwester der Aussätzigen sein? Oder ist sie eine Wahnwitzige, die das Unmögliche der vollkommenen Armut mit den Armen will? Sie geißelte sich, sie unterbrach ihren Schlaf, lud sich verkrüppelte Kinder auf, unterwirft sich einem rabiaten Beichtvater. „Gott ist mein Zeuge“, sagt sie. „dass ich meine Kinder nicht pflege, sondern die fremden Nächsten. Denn die hat mir Gott übergeben.“ – wir haben es schwer mit ihr, wenn wir die Ranken der Legende um sie herum ein wenig zur Seite biegen.
Aber dann jene Geschichten, die man nie vergessen kann: Elisabeth begegnet einer alten Frau, die oft von ihr Gaben empfangen hatte. Es war eine schmale Stelle auf dem Weg, Feldsteine hatte man in den Schlamm gelegt, dass der Weg passierbar bliebe. Als sich die Frauen begegneten, stieß die alte Frau Elisabeth in den Schlamm. Ihre Kleider waren vom Kot beschmutzt, die Leute lachten über die Fürstin im Schmutz. Sie stand auf und wusch die Kleider am Brunnen, unbefangen und heiter.
Wer von Elisabeth erzählt, erzählt auch diese Geschichte, die Geschichte von der tiefen Gewaltlosigkeit. Sie verzichtet auf ihre Sicherung durch ihren fürstlichen Stand, auf den Genuss des Besitzes und auf die Rache an dieser Frau. Sie verzichtete auf die Sicherung ihres Lebens durch Macht und Gewalt. Sie erschöpft ihr Leben nicht im Selbstschutz, in der Selbstverteidigung, in der Aufrüstung gegen das andere Leben. Sie besteht nicht auf ihrem Recht, auf ihrem Besitz, auf ihrem Ansehen. Sie macht sich fast systematisch verwundbar. Sie befreit sich von der Möglichkeit der Gewalt. Was könnte Gewaltverzicht für die Beziehungen der Menschen bedeuten? Was hieße Gewaltlosigkeit in einer Ehe, in einer Schulklasse, im Umgang mit der Natur, in den politischen Beziehungen der Völker? Gewaltverzicht – vielleicht ist dies der einzige Weg, wie Widerstand überzeugt und wie er zur Verlockung wird für mehr und reicheres Leben. Elisabeth von Thüringen ist die „Nationalheilige“ der Deutschen genannt worden, eine wahrhaft gefährliche Erinnerung…