Lange waren es die Lebensfelder Sexualität und Erotik, über die man nicht sprach. Das ist inzwischen vorbei. Im Umgang mit Krankheit ist dies immer noch anders. Wer mit einer bösen medizinischen Diagnose konfrontiert wird, spürt oft Hemmungen, davon zu sprechen. Eine solche Diagnose verändert das Leben, sie unterbricht die Selbstverständlichkeiten des Alltags, streicht Planungen und Perspektiven durch.
Das ließe sich noch irgendwie arrangieren; weitaus bedrohlicher ist, dass eine solche Diagnose (….) die gesamte Lebensgewissheit verletzt.
Ein Freund, den ich im Krankenhaus besuchte, hat mir dies geschildert:
„Ich bin krank und liege. Ich bin auf einer anderen Ebene: Ich schaue hoch, sie schauen auf mich herab. Das mag ja ein Blick des Erbarmens sein, aber ich bin nicht mehr eben-bürtig, wir teilen die Ebenen nicht mehr. Dass ich liege und sie stehen, ist nicht nur äußerlich. Ich liege, sie stehen, das ist Teil meiner Einsamkeit als Kranker. Die Gesunden sprechen mit mir, vielleicht reden sie noch mehr über mich. Ich bin mehr ein Beredeter als ein Redender. Der Arzt sagt etwas zu meiner Frau. Ich habe es nicht verstanden. Sollte ich es nicht verstehen? Hat er ihr von der Verschlechterung meiner Krankheit erzählt? Warum sind plötzlich die Kinder auf einmal da? Jedem Vorgang, jedem Mienenspiel, jedem Wort schiebe ich eine zweite Bedeutung unter.“
Ich höre besorgt zu, aber mein Freund beruhigt mich: „Du siehst, man kann in einen gewissen Wahn geraten; das hat damit zu tun, dass ich ständig an mir selber klebe. Was wird morgen sein? (…) Man gerät in einen verrückten Egoismus.“
Was kann ich ihm sagen? Ich versuche es: „Wir haben gelernt zu arbeiten, wir haben gelernt, uns zu vergnügen. Waren wir mal kurz krank, hatten wir einen verständnisvollen Arzt, der half, diese lästige Störung los zu werden. Wir haben es nicht gelernt, ernsthaft krank zu sein.“
Dann sprechen wir lange und beim Abschied sagt er: „Ja, die Alten glaubten: Leiden ist Lernen! Wenn es so einfach wäre? Was macht das Leiden mit mir? Eins darf ich zum Abschied sagen: den Alltag habe ich verloren, aber gewonnen habe ich eine ganz neue Aufmerksamkeit, füreinander und für das menschliches Angesicht
Ich ging mit dem festen Vorsatz, den nächsten Besuch nicht zu lange vor mir her zu schieben.