In Zeiten wie diesen ist kaum Platz für andere Nachrichten. Und doch tut es gut, einmal auf andere Gedanken zu kommen, auch anderes zu hören, den Blick zu weiten und ein wenig Abstand zu gewinnen. So zeigt der Kalender für diese Woche einen besonderen Geburtstag an: Vor 250 Jahren erblickte Friedrich Hölderlin das Licht der Welt. Verrückter, Revolutionär, schwäbischer Romantiker, ein großer Dichter und Denker. Er hat uns bemerkenswerte Texte hinterlassen. Bemerkenswert aktuell wie dieses Gedicht
„Der Gang aufs Land“:
Komm! ins Offene, Freund! Zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließt der Himmel uns ein.
Und fast will mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Eng und immer enger werden unsere Kreise in diesen Tagen. Bleierne Zeit in Zeiten des Virus. Da kommt dieser grenzüberschreitende Ruf gerade recht: „Komm! ins Offene, Freund!“ – seit Hölderlins Tagen eine Losung, ein Aufruf, ein Lockruf, begleitet von Wohlwollen, Offenheit und Vertrauen. Vertrauen ist eine riskante Vorleistung. Im Augenblick ist Vorsicht und Misstrauen geboten. Die Hände nicht schütteln, auf Abstand gehen. Und wenn wir die aktuelle Lage in Europa betrachten, kann einem fast bange werden für alles, was noch offen ist – offene Grenzen zum Beispiel. Auch wenn geschlossene Grenzen auch ängstigen, wenn die Sperren plötzlich für uns selber gelten, sie vermitteln doch ein Gefühl des Schutzes und der Sicherheit. Bewahren wir uns bei alledem die Offenheit, das Wohlwollen und das Vertrauen. „Komm! ins Offene, Freund!“ – wer sich aus Furcht vor was auch immer verschließt, blockiert neue Erfahrungen und die Freiheit, sich in offene, unerwartete Richtungen zu entwickeln. „Komm! ins Offene, Freund!“ – Christa Wolf rief es 1982 den Regierenden der DDR zu und…? Die jüngste Biographie Hölderlins trägt diesen Lock-Ruf als Titel, er ist ein lebens- und weltumspannender Ruf geworden gegen Nationalismus und Verhärtungen, Präsidenten und Parteien. Geistige Offenheit – sie geht auch und gerade, wenn es um uns herum enger wird und Isolation geboten ist. Vielleicht stärkt diese Zeit ja sogar die Sehnsucht nach ihr: Vielleicht wissen wir danach erst so recht zu schätzen, was es bedeutet, wenn Grenzen offen sind und die Zeit der Isolation vorbei. „Komm! Ins Offene, Freund!“ – Hölderlins „Gute Botschaft“ heute.
Nachweis: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Gedichte und Hyperion, hrsg. von J. Schmidt, Insel Verlag Frankfurt a.M.1999, 276.