Wandern…mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern
Betraut mit der Aufgabe, die Feinkostabteilung eines großen Buchhauses (BuDeWe) mit literarisch ausgesuchten, politisch inspirierenden, historisch entdeckenden und filmisch reizvollen Arbeiten auszustatten, der ist zu raten, das neue Buch (Buch?) von Alexander Kluge auf das sorgfältigste in 5 kleine Ausstellungen auseinanderzunehmen, dazu einen Lesepfad zu entwerfen und angenehme Gelegenheiten zum Niedersitzen, Nachdenken und Erholen bereit zu stellen…
Was der Schriftsteller, Filmemacher, Anwalt und Produzent irritierender Fernsehformate, Alexander Kluge, in seiner neuen Arbeit versammelt, nennen wir noch immer „Buch“, es ist eine, wie sie es früher in Fürstenhäusern gab, „Wunderkammer“, ein kulturgeschichtliches „Zeughaus“, eine Zeitkapsel oder wie Rezensenten übersalopp sagen, eine „Wundertüte“. Er selbst gebraucht im Titel das marktaktuelle Wort für einen Großraumbehälter, der einfaches und schnelles Verladen, Befördern, Lagern und Entladen ermöglicht: „Container“ – nein, schon hereingefallen, Kluge schreibt „Kontainer“ – eine optische Annäherung an das russische Vokabular?
Wörtlich: vielseitig, vielfältig, vielstimmig, vielschichtig – Kluge hätte sich eine Landkarte von Russland im 1: 1 Maßstab gewünscht… Der Band selber ist eine Feinkostabteilung mit den erlesensten Delikatessen. Und das in einer Zeit, in der Hegels Weltgeist schwere Schaffenskrisen durchleidet. Und dazu noch „Russland“!
„Die Russen kommen“, eine Generation hat diesen Schrei noch als Alptraum in den Ohren! Doch Kluge hat auch anderes erlebt: „In Halberstadt konnte man genau beobachten, wie sich die Alliierten unterschieden. Die Amerikaner kamen mit dem Jeep und brachten uns Bonbons. Die Briten waren reserviert und geizig. Die Russen sind zu Fuß und laut singend eingezogen. Davor hatten wir Angst…es gibt eine Tendenz, nach Osten hin anzuschwärzen. Der preußische König und spätere Kaiser Wilhelm I., Großvater des Angeberkaisers Wilhelm II., hat gesagt, Russland müsse man immer mit „Sie“ anreden.“
Russland mit Respekt begegnen, das ist Kluges Vorgehensweise. Er will nicht mit dem Blick des Beutejägers, des Adlers, der von oben nach unten blickt, dem Land begegnen, so ist sein Interesse durch Napoleons und Hitlers katastrophale Beutezüge geschärft. Kluge, pointiert: „Alle Eroberer sind nicht besonders stolz zurückgekommen.“ Außerdem weiß Kluge, dass Russland viel mehr ist als „Moskau“.
Wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, dass es für Russland in jüngster Zeit Bemerkenswertes zu lesen und zu lernen gab, zwei Namen seien erinnert: Swetlana Alexijewitsch und Karl Schlögel. Einmal die verdichteten Lebenserfahrungen der Nobelpreisträgerin, einmal die (ziegelstein)-schweren Bände des Historikers von der Viadrina in Frankfurt an der Oder. So prägnant beide ihre Studien vorlegen, so sehr sind sie auch mit hohem narrativen Ton verfasst, darin Kluge verwandt, wenn auch dessen völliger Verzicht auf Stringenz, Struktur und Erzähllogik mehr dem Bild vom „Kontainer“ entspricht. Wer mit dem Straßenplan von Groß-London im Harz wandert, wird auf vieles stoßen, was nie zusammengehörte, was man aber zu einem Themenkarussell zusammenknüpfen kann. Wer weiterliest, wird bald von einem Kettenkarussell sprechen…. Im Bilde: Arbeiten Schlögel und Alexijewitsch mit einem „Ordner“ vom Regal, so Kluge mit faszinierenden Puzzlehäufchen, von denen er nie gedenkt, sie zusammenzusetzen.
Was treibt Kluge an? Er ist überzeugt, dass die Russen 1917 eine andere Antwort auf den Einsturz, das Ende aller tragenden Gewissheiten geben wollten als alle anderen Nationen Europas. Und das schwärmerisch, visionär, hochbegabt, extravagant, kühn und mit produktiver Energie, kurz: eine ungeheure Erinnerungs – und Erneuerungsbewegung, eine Emanzipation in eklatanter Ungleichzeitig in einem unvorstellbar riesige Reich. Sie bekam keine Zeit – Stalins Terror erdrosselte sie. Karl Schlögel hat diese Gleichzeitigkeit in „Traum und Terror – Moskau 1937“ vor Augen gemalt. „Traum und Terror“ zwischen 1917 und 1937 zu entdecken, nachzuzeichnen, in Hunderten von politischen Episoden, Biographiesplittern, Kadererfahrungen, Experimenten vor dem Vergessen zu retten, das treibt Kluge an. Und so fragt er heute völlig zu Recht: „Gibt es in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts einen Utopie-Horizont?“ In einem Interview mit dem Standard sagte er jüngst: „Max Weber spricht in Bezug auf jemanden, der so forsch wie ein Siebenjähriger mit Weltverhältnissen, Atombomben und der Frage von Krieg und Frieden umgeht wie Trump, vom Charisma des betrunkenen Elefanten.“ Eben deshalb ist es so wichtig, den Beobachtungen Kluges in ihrer exklusiven Fülle an Sonderbarem zu folgen. Ich bin überzeugt: Er glaubt an die Lesenden! Bei so viel konsequentem Verzicht auf Zusammenhang zwischen Puschkin und Putin, Kant, Kaliningrad, Kosmonauten, Karamasow und den Kränen von Mukran, wo bald die nord-stream-Pipeline andockt, die der gefährliche Kindkaiser am liebsten zerstören würde…
Virtuos sammelt er das Entlegendste; immer wieder selbst erstaunt über so viel revolutionäre Vorhaben, pfeilschnellen Schiffen gleich, denen bei soviel Sturm leider die Segel fehlen. In eines der bizarrsten Geschichten wird von einem Lemberger Glühbirnenfabrikant erzählt, der die Nachtstunden Sibiriens mit seinen Produkten kolonisiert hat. Riesige Gebiete haben sich durch die künstliche Tageshelle in die Nacht hinein vergrößert. „Es wurden keine Gefangenen gemacht. Im Gegenteil.“ Zum „Licht“ weiß Kluge aber auch von den Ikonen, den spirituellen Fenstern nach innen; „und dann ist da noch das Licht, das in einem Revolver blitzt, der auf den Nacken von Nikolai Bucharin gerichtet ist. Das war einer der Beliebtesten der Partei, ein vertrauenswürdiger Genosse…Dieser Blitz im Revolver ist die Anti-Ikone. Dazwischen liegt das weite Feld der Wirklichkeiten Russlands.“
Eine Wunderkammer – selbst die „Hinweise und Nachweise“ geben erneut Anschlussmöglichkeiten an das filmisch-dokumentarische Werk Kluges, vom dem viele Bildreihen im Buch zu sehen sind. In Kluges Sinne sollte natürlich hier das Buch abgedruckt werden – wie sonst Disparates, Ungleichzeitiges, Nichtzusammengehöriges abbilden? Wenigstens einige große Kapitel seinen genannt:: „Alle Seelen Russlands weisen mit ihren Wurzeln zum Himmel“ ; „Russland, das Vaterland der Besonderheiten“; Der Blick des Beutemachers auf die Landkarte“; „Die Macht liegt im Verputz versteckt; Lamento für die verlorengegangene Perestroika“…Es ist auch schön, nicht zu wissen, was erfunden und was historisch ist…
Geben wir Alexander Kluge den Schlusssatz, „…einen schönen Satz, dem ich sehr anhänge: ‚Mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern.‘ Ich komme aus dem Harz, und ich kann ihnen sagen, Sie würden mit Sicherheit in irgendeine Kuhle fallen und sich den Arm brechen. Das wäre eine unmittelbare Erfahrung, und die würden sie sich merken.“
Liebe Leser dieses Bücherbriefes, die Reise mit Kluges Kontainer durch Russland kann eine unmittelbare Erfahrung werden. Kluge, Jahrgang 1932, studierte Jura, Geschichte und Kirchenmusik. „Russland-Kontainer“ wird ins Russische übersetzt und soll im Museum für zeitgenössische Kunst im Moskauer Gorki-Park vorgestellt werden.
Erwähnte und empfohlene Titel:
Swetlana Alexijewitsch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Hanser Berlin, 2013, 360 S.
Swetlana Alexijewitsch, Secondhand-Zeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus, Hanser Berlin 2013, 570 S.
Karl Schlögel, Das sowjetische Jahrhundert, Archäologie einer untergegangenen Welt, C.H. Beck München, 2018, 912 S
Karl Schlögel, Terror und Traum, Moskau 1937, Hanser Verlag München 2008, 812 S., 34.00 Euro
Verlagsidentische Ausgabe bei: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008
Nicht erwähnt und deshalb hier mit Nachdruck empfohlen.
Oleg Jurjew, Zwanzig Facetten der russischen Natur, mit 10 Bildern von Kusma Petrow Wodkin, Insel Bücherei 1307, Insel Verlag Frankfurt a. M. 2008, 68 S.,12.85 Euro
Der Bücherbrief erscheint in Zusammenarbeit mit Schleichers Buchhandlung in Dahlem-Dorf, Königin-Luise-Straße 41, 14195, Tel. 84 19.02 -0, www.schleichersbuch.de