Es ist schon der fünfte Tag des neuen Jahres – doch mein Wunsch für dieses Jahr ist an jedem Tag aktuell: Geistesgegenwart! Geistesgegenwart ist eines der schönsten deutschen Wörter und eine der seltensten Tugenden. Geistesgegenwart – das ist viel mehr als Schlagfertigkeit, Reaktionsvermögen, hellwach-blitzgescheite Pfiffigkeit, Brillanz und Witz – alle sind sie liebenswürdige Tugenden, doch Geistesgegenwart ist noch mehr.
Sie ist dort, wo ein Mensch Rückgrat bewahrt, furchtlos bleibt, der Wahrheit die Treue hält, seinem Verstand folgt, beim Denken gerade bleibt und kein Querdenker wird. Genau dann, wenn man ins Gedränge kommt, provoziert wird, verführt, vielleicht doch mit den Wölfen zu heulen, zu reden wie der Chef redet – genau dann unbeirrt zu bleiben, nicht das menschlich Naheliegende, sondern das mutig Fernliegende tun, bei einer fairen Verteilung der Impfstoffe z.B. – da ereignet sich Geistes-Gegenwart. Sie gehört zurzeit nicht zu den nationalen oder kirchlichen Tugenden. Zurzeit regiert ein Zeitgeist, der in keinem guten Zustand ist und über dies anfangende Jahr nicht herrschen möge!
Unsere Gesellschaft – ein Schauplatz von Machtkämpfen? Wir erleben Wettkämpfe um wirtschaftliche, aber auch psychische Macht, also die Macht, andere möglichst wirkungsvoll zu kränken, bloßzustellen, zu entwürdigen, zu belügen, ihre Vitalität an sich zu fesseln. Dieser Zeitgeist ist wie ein Bann, der die Menschen lähmt, ihr Nebeneinander, ihren Mitmenschen nicht mehr an die Hand zu nehmen, das kleine Wörtchen „mit“ stumm zu machen.
„Mit“ ist das Wahr-Zeichen der Geistesgegenwart. Der Mensch, der nicht Mitmensch ist, ist Unmensch, hat Karl Barth gesagt, ein geistesgegenwärtiger Christ, hat das Mitgefühl verlernt, das Mitleid und auch die Mitfreude. „Mit“, das kürzeste Wort, das umschreibt, was das Evangelium erzählt: Da ist einer, der mit uns geht durch die Katastrophen, auch in diesem Jahr, in Verlassenheit und Freude, in allem, was beginnen will. Lassen wir uns doch mitreißen von diesem schönsten aller Versprechen!