Meine Schweizer Kollegin Jacqueline Keune in Luzern hat einen Freund, er heißt Urs. Urs ist blind.
Einmal ist er auf dem Boulevard in Freiburg in eine Baugrube gefallen, weil die Arbeiter nicht daran gedacht haben, dass jemand das Riesenloch nicht sehen könnte. Und weiter erzählt sie, dass er einmal am Bodensee mit dem Gesicht gegen die Heckklappe eines Lasters geknallt ist, weil der Fahrer nicht überlegt hatte, dass jemand den Riesenlaster übersehen könnte und ihn halb auf dem Trottoir abgestellt hatte.
Ich erinnere mich an das halbe Blindseins, wenn ich mit Maske und Brille auf dem Wochenmarkt zwischen den Ständen herumsteuere oder an der Kasse irgendwie fast blind, wie ich empfinde, Münzen aus der Tasche fingere und 50cent nicht von 20cent unterscheiden kann. Gewiss, Bagatellen, nicht zu wähnen, und sie verschwinden ja wieder.
Aber Jacqueline Keune erinnert mich an die Szene, in der Jesus mit Freunden und Freundinnen, die seinetwegen alles verlassen haben, irgendwo in Galiläa unterwegs ist und einen Mann trifft, der am Straßenrand sitzt und seit Geburt blind ist. Die Gruppe redet über ihn, vor allem, wer schuld ist an seinem Lebenselend. Sie fragen Jesus: Sind die Eltern schuld? Er selbst? Es muss doch einen Grund geben, dass er blind ist. Wir können doch alle sehen! Jemand muss doch Schuld haben! Und meine Kollegin schreibt mir voller Empörung: „Der Darmkrebs hat meine Freundin weniger verletzt als die Mutmaßungen ihrer Nächsten, warum sie ihn bekommen hat.“ Ja, ich habe es selbst erlebt, man will diese schnelle Schuld finden. Am Ende ist die Kranke immer selbst schuld, es ist fürchterlich!
Jesus will nun Ursachen, Herkunft und Schuld nicht zum Thema machen, wie es heute oft amateur-therapeutisch quacksalbernd geschieht. Er sagt – so steht es im Evangelium des Johannes – „So lange ich in der Welt bin, werde ich für diese Welt das Licht sein.“ Und dann geschieht etwas, angesichts dessen jeder Mensch sich beim ersten Hören die Haare rauft: Jesus spuckt vehement auf die Erde, rührt mit dem Speichel eine, mein Enkel würde sagen, eine Pampe an und schmiert sie dann dem Blinden auf die Augen und – lässt ihn in die Zukunft schauen.
Jacqueline Keune aus Luzern schreibt, dick unterstrichen: „Wenn Leiden irgendeinen Sinn haben soll, dann den, dass es geheilt oder gelindert wird.“ Ihr Schlusswort heißt; „Spucke und Erde – so weit das Auge reicht.“