Abendsegen | Mittwoch, 10. Juli

Ihr müder Blick bleibt an dem Baum hängen, dessen Zweige und Äste sie von ihrem Krankenzimmer aus an der Hauswand gegenüber sehen kann. Es ist bereits spät im Jahr, und die meisten Blätter sind gefallen. „Mit dem letzten Blatt“, sagt sich die Todkranke, „mit dem Fall des letzten Blattes werde ich sterben.“

Von Morgen an beobachtet sie den Baum. Nur noch wenige Blätter tanzten an den Zweigen, bevor sie abstürzten…schließlich hing nur ein einziges Blatt am Baum. Das letzte. In dieser Nacht zog ein schwerer Sturm über die Stadt und riss alles mit sich. Als es dämmerte, ahnte die Frau, dass ihr letzter Tag gekommen war. Doch welch ein Wunder. Das eine Blatt hatte dem Sturm getrotzt. Da durchströmte die Todkranke eine Welle der Hoffnung. Neue Kraft wuchs ihr spürbar zu. Wenn das Blatt es geschafft hatte, dem schweren Sturm zu widerstehen, dann konnte sie auch ihre Krankheit bezwingen. 

Erst als sie wieder gesund geworden war, erfuhr sie, dass in jener stürmischen Nacht ihr Mann ein Blatt an die Wand des Hauses gegenüber gemalt hatte; das erste Blatt für ein neues Leben…

Eine Geschichte des amerikanischen Erzählers O. Henry. Unser Vater, segne alle in Kliniken, Pflegeheimen und Krankenzimmern mit Trotzkraft, stärkendem Schlaf und blättermalenden Mit-Menschen. Quelle: O. Henry, Das letzte Blatt, in: B. Becker, Hans Möhler (Hg.). Abendfibel müder Seelen, Luther Verlag, 2019, 108f (gekürzt)