Bücherbrief im Spätsommer 2024

Zwischen Kibbuzim und Zauberbergen – Vom Kudamm in die Karawanken

Bücher im Jahr der Würdigungen / Bücherpäckchen für Heranwachsende

Von Kant zu Kirsch, von Franz Kafka zu Bulat Okudschawa, vom 75-jährigen Grundgesetz bis zu uns – ein Jahr ratgebender, wohltuender und berührender Bücher bewegt sich dem Herbst entgegen – einem schon jetzt erkennbar reichen Bücher-Herbst. Zeit für einen Zwischenblick:

Schauen wir ins sommerliche Büchernetz und nehmen die Titel heraus, die wir nicht ins Meer der Bücher von 2024 zurückwerfen wollen: Jene, die am Ende des Jubiläumsjahres in der ersten Reihe sitzen sollten; wir porträtieren sie knapp mit persönlicher Empfehlung.

Im Anschluss stellen wir einige Titel vor, die aufgrund ihrer Anmut, ihrer Anregungen und literarischen Anreize die zweite Reihe bald verlassen sollten! Wir sind ja noch im Kant-Jahr! Die Jagd der gegenwärtigen Ereignisse – Wahlen, Zahlen, Qualen – lassen das beinahe vergessen …

So ist mit großem Aufatmen dankbar wahrzunehmen, dass neben den Werken verdienter Emeriti im Fach Philosophie (Marcus Willaschek, Ottfried Höffe) und der so brillant wie schwer geschriebenen Architektonik der Vernunft von Lea Ypi auch mit Kant am Strand sowie dem wunderbaren Kant- Roman von Felix Heidenreich Der Diener des Philosophen helle, heitere Arbeiten erschienen. Von all dem – jenseits deutscher Verdrießlickeit, diesseits kantischen Selbstdenkens und abhold jeglicher Gereiztheit – ist ein stärkender, alle Melodien kantischer Weltverbesserung antönender Gesprächsband auf dem Tisch, um den sich viele Lesende in Familie, Gesellschaft, Universität, Lesezirkeln und Arbeitskreisen beugen sollten:

Omri Boehm, Daniel Kehlmann, Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant, mit Übersetzungen aus dem Englischen von Michael Adrian, Propyläen Verlag 2024, 349 S., 26.00 Euro

Es ist nicht nur ein Buch von Zweien im Gespräch, im Fragen und Erkunden, eine Befragung gut erzogener Wissensvirtuosen jenseits einer erregten Öffentlichkeit – es ist eine – pardon – geradezu seelisch stärkende, freundliche Unterhaltung, unverkennbar zur mitfühlenden säkularen Seelsorge geneigt. Ein solcher Gesprächsband steht in der wunderbaren Nachfolge des Melanchthonsatzes „Wir sind zu einem Gespräch geboren“.

Das Wesen des Dialogs besteht darin, dass er offen ist hinsichtlich seines Ausgangs – kaum hat er begonnen, erwartet uns das Kapitel Das Erhabene und der Sternenhimmel über uns, dem das Buch seinen Titel verdankt. In einem Disput mit Pascal und Nietzsche entscheiden sich Boehm und Kehlmann über die Ortsfindung des Menschen. Nicht mit Pascal für die Rückkehr zu Gott, nicht für die Flucht zum Übermenschen Nietzsches: Sie sehen Kant auf der Rückkehr zum MenschenVon hier aus tasten sie sich in einem lebhaften Gespräch von Kantgipfel zu Kantgipfel und werden dialogisch kantgerecht. Dass ein Dialog sich als ertragreichstes Buch des Kantjahres erweist, ist ein gutes Zeichen! Kant würde es freuen.

In unserem Sinne wagen wir noch drei Vorlieben:

Kant zum Kennenlernen – Kant zum Liebhaben – Mit Kant Weiterleben und Lernen

I. Kant zum Kennenlernen: Antje Herzog und Thomas Ebers, Immanuel Kant und die offenen Fragen, eine Bilderreise, Herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn, Wienand Verlag 2023, 169 S., 25.00 Euro

Il. Kant zum Liebhaben: Felix Heidenreich, Der Diener des Philosophen, Wallstein Verlag 2023, 150 S., 22.00 Euro

III. Mit Kant weiterleben: Lea Ypi, Die Architektonik der Vernunft, Zweckmäßigkeit und systematische Einheit in Kants „Kritik der reinen Vernunft“, Suhrkamp Verlag 2024, stw 2438, 245 S., 22.00 Euro

„Wo es keine Menschen gibt, versuche, ein Mensch zu sein“, diesen Satz aus der frühjüdischen Auslegungsliteratur (Mischna-Traktat, Sprüche der Väter) setzen Boehm und Kehlmann auf die Seite vor dem Inhaltsverzeichnis, ein unverkennbarer Appell jüdischer Trotz-Ethik, den auch Sarah Kirsch übernimmt, wenn sie sich aus Solidarität mit dem Judentum den Namen „Sarah“ selbst gibt – ein Name, ein Bekenntnis, ein Widerstandsakt, eine Anknüpfung der immer aktuellen Relevanz. Nun hören wir mehr von dieser undämpfbaren Energie für Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit. Dramatisch pikant wird bei längerem Nachdenken ihr Kontra zur Kollegin Wolf, die immerhin den christlichsten aller Vornamen trägt: „Christa“; das Zerwürfnis mit Christa Wolf, ein schmerzlich quälender Unterton des Tagebuchs von 1990, könnte mit einer vertieften Meditation über „Sarah und/gegen Christa“ beschrieben werden. Das würde auch in deutsch-deutsche Abgründe führen …

Sarah Kirsch, Der Sommer fängt doch so an! Tagebuch 1990, hrsg. von Moritz Kirsch ,Steidl Verlag 2023, 224 S., 24.00 Euro

Zum zehnten Todestag ist nun von ihrem Sohn Moritz, oft im Buch Moses gerufen, ihr Tagebuch aus dem Jahr 1990 erschienen, das Jahr nach dem Mauerfall, in dem neue Mauern sichtbar werden. Man kann das Nachwort von Moritz Kirsch zuerst lesen (ist doch ein Vorwort!), aber wo immer man aufschlägt: Unüberlesbar Sarah Kirsch – in einem rauhbautzigen, bärbeißigen, rechtschreibregelbrechenden Wut- wie Wehmutstil, immer wieder gebrochen von zärtlicher Sprache, zarten Zeichnungen und zarthafter Lyrik. Die bis dahin westdeutschen Medien werden grimmig vorgeführt, die früheren Genossen, insonderheit der Zensurpapst Hermann Kant (auch der Name noch!), von jeder Wahrnehmung verbannt. Und eben ein tiefsitzender Konflikt (ein Zusammen-Bruch) der vermeintlichen Freundschaft von Sarah und Christa. Das Buch passt auf mehreren Ebenen zum Kant-Jahr, zuerst zum Thema Kritik der Urteilskraft, dann zu den Fragen der Aufklärung und des moralischen Imperativs. Der kann auch gesungen werden!

Eine wundersame Erscheinung des auf vielen Themenfeldern glänzenden Lukas Verlages ist hervorzuheben:

Bulat Okudschawa, Mein Jahrhundert, Lieder und Gedichte, Russisch-Deutsch, Vorwort von Wolf Biermann, herausgegeben und übersetzt von Ekkehard Maaß, Illustrationen von Moritz Götze, Lukas Verlag 2024, 136 S., 20.00 Euro

In der Tradition der Hofsänger wurden die Scharfzüngigen, die Abirrenden, die Lobverweigerer zu den Hofnarren, die von dem singen, was die Herrschenden nicht hören wollten, also ungehörig und ungehorsam fanden. Das fand der hoch zu lobende Lukas Verlag an den Liedern des georgischen Sängers Okudschawa nicht und gedachte seiner zu seinem 100. Geburtstag mit einem Band, der ihn wieder zu den fast vergessenen Tauwetter-Veteranen stellt: Andrej Wosnesenskij, Jewgenij Jewtuschenko, Bella Achmadulina und vielen anderen. Im Lebensbild von Katja Lebedewa, dem Vorwort von Wolf Biermann, der Liebe Ekkehard Maaßens zur „Gitarrenlyrik“ und den rund 100 Liedern

Okudschawas lebt eine uns fern gerückte, aber angesichts der Weltherrschaft von Taylor Swift so nötige Welt der gesungenen Kritik auf. Unter Putins und Lukaschenkos Gewaltapparat käme keine Note davon ans Licht der Welt.

Dass dies Buch höchsten Ernstes so heiter und gut anzusehen ist, verdankt es auch der visuellen Gestaltung von Bettina Kubanek. Es zu würdigen verfällt nicht der Kritik Adornos an Würdigungen, sie würden so oft von oben herab gütig Noten verteilen. Dies gilt auch nicht für die beiden Titel, die aus dem Ertrag des Kafka-Jahres zu nennen sind – neben der vorzüglichen Fernseh- Serie. Es sind:

Dieter Lamping, Anders leben – Franz Kafka und Dora Diamant, Verlag Ebersbach & Simon 2024, 144 S., 20.00 Euro

Rüdiger Safranski, Kafka, Um sein Leben schreiben, Hanser Verlag 2024, 256 S., 26.00 Euro

Wer vom S-und U-Bahnhof Steglitz mit dem Bus über die Grunewaldstraße zu Schleichers Buchhandlung in Dahlem fahren will – Lesen, einfach lesen! – wird das alte Kunsthistoriker-Sprüchlein erleben: „Man sieht nur, was man weiß“. Bei der Hausnummer 13 ist eine Gedenktafel für Franz Kafka angebracht, leicht versteckt hinterm Haus eine zweite. Von Dora Diamant keine Silbe – ein neues Thema, doch bei der neuerdings fieberhaft angekurbelten „Kafka-in-Steglitz- Tourismusinitiative“ wird es nachgeholt werden … Dieter Lamping hat ein freundliches, ja liebenswürdiges Buch über die beiden im Berlin von 1923 geschrieben, das sie mit dem Film Die Herrlichkeit des Lebens (nach einem Buch von Michael Kumpfmüller) in ein neues und geschwisterliches Bild rückt. In der Zeitschrift literaturkritik hat Lamping einen schönen Beitrag geschrieben: „Genau genommen bin ich Franz Kafkas Frau – Dora Diamant“.

Ich habe Lampings Buch mit größerer innerer Bewegung gelesen als Safranskis Studie zum Schreiben, um zu überleben – ein stilsicherer, intellektuell evidenter, biographisch kenntnisreicher Schlüssel zum Werk Kafkas – bekömmlich distanziert mit Blick auf Dora, orientiert, versiert und eben ein wenig – ausgeruht … Ein geübter Biograph porträtiert mit Wissen und Einfühlung einen „Schwierigen“. Eine lernende Biographie mit existentieller Neugier.

Wer unbedingt noch in ein literarisches Blitzlichtpuzzle mit und um Kafka einsteigen will, in dem alles um 1923 in Berlin literarisch Leuchtende und Irrlichternde funkelt und sprüht, schaue in

Hans-Peter Fischer, „Franz heißt die Kanaille“ oder: Schwarzer Prinz in Steglitz, Kafka in Berlin, 1923/24, ein Großstadtmärchen ((episch/lyrisch/dramatisch)),
Königshausen & Neumann 2020, 312 S., 39.80 Euro

Der Autor unterrichtete ein Leben lang Literatur an einem deutschen Gymnasium (in Berlin?). Man kann die Unterrichteten im Nachhinein beneiden. Wer aus seiner beruflichen Praxis einen solch ansehnlichen Strauß schöner Literatur zu binden vermag und ihn Kafka spielerisch in den Arm drückt – Respekt!

Respekt auch dem letzten der 100-jährig zu Würdigenden: Ende November 1924 erschien Der Zauberberg von Thomas Mann. Gibt es Nachdenkliches zum dichten Beieinander von Kafkas Tod am 24. Juni und Manns Jahrhundertroman am 28. November 1924? Die

Unterschiede zwischen Kierling und Davos – unüberbrückbar, die ärmlichen Zimmer und der schmale Balkon in Kierling, das noble Davos, unüberbrückbar; und doch, und doch: Was der eine erlitt und der andere erdachte war die Krankheit des Jahrhunderts, organisch konkret und politisch symbolisch zur gleichen Zeit, 1924. Darüber wird noch nachgedacht werden; jetzt geht es um einen Titel

Thomas Sparr, Zauberberge, ein Jahrhundertroman aus Davos, Berenberg Verlag 2024, 88 S.,

Todesfuge“ – Biographie eines Gedichts (2020), Grunewald im Orient. Das deutsch-jüdische Jerusalem (2018) und jüngst die Biographie des Tagebuchs (2023), gemeint ist Anne Franks Lebenszeugnis – der Autor ist mit einer Dimension von Literatur verbunden, in der die schmerzlich verflochtene, nicht aufzulösende Geschichte von Juden, Deutschen und der Literatur den Kern bildet. Thomas Sparr hat in Israel gelebt und gearbeitet und in deutschen Verlagen seine Stimme laut werden lassen. Die Zauberberge sind ein gelungenes, ein brillantes Nebenwerk, denn es ist, lutherisch gesprochen, „bei Tische“ entstanden, geht zurück auf Vorträge in Davos zu den Gedenkinitiativen „100 Jahre Zauberberg“. Da der Zauberberg als Buch ein alpines Gebirgsmassiv ist, hat er sich etwas einfallen lassen, das höchst vergnüglich, aphoristisch, gedankenreich, voller Esprit und Eleganz geschrieben ist: Er nimmt die

Urform ordnenden Schreibens und spielt auf ihr scheinbar improvisierend höchst durchdacht und dicht: das Alphabet. Der erste hebräische Buchstabe heißt „aleph“, der zweite „beth“, und schon haben wir das „Alphabeth“ – wo Israel das wohl gelernt hat? Natürlich von den Griechen mit dem ersten Buchstaben „alpha“ und dem zweiten „beta“. Kein Wort davon im Verlagsdrumherum. Sparr wählt die Alphabetsthemen phantastisch kreativ aus: Für A die Ankunft, für B den Bleistift, I für Ironie, J für Juden, Q für Queer, W für Weimar. Dabei gelingen ihm Querverweise, Exkurse und Tiefenbohrungen und immer wieder werden die ausgeworfenen Netze voll! Demokratie, Gesundheit und Humanität möchte man hier ausführlich zitieren … Dem großen Werk von erhöhter Warte ein solches Alphabet überzuwerfen – eine preiswürdige Idee – sollte es zum 100-jährigen Erscheinungsjubiläum eine „Würdigung“ geben … So viel zu den Verbeugungen in einem impulsprallen Bücher-Jahr.

Vorbei das Jahr der Verbeugungen. Hier folgen Anstöße zur Aufmerksamkeit für Titel, die nicht im Glanz des Gedenkens stehen, aber glänzend geschrieben und zu lesen sind:

Iwan Bunin, Der Sonnenstich, Erzählungen 1924-1926, aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg, mit einem Nachwort von Thomas Grob, Dörlemann Verlag 2024, 319 S., Band 11 der Werk- Ausgabe, 26.00 Euro

Berlin und Paris waren die Zentren der russischen Emigrationskultur in den Zwanziger Jahren; erwähnen wir Vladimir Nabokov in Berlin und Iwan Bunin, aber auch Gaito Gasdanow in Paris stellvertretend für viele. Vor Jahren stellte Fritz Mierau in gedrängter Form die Russen in Berlin vor, für Paris kenne ich keine ähnliche Publikation. Die Titel sind sämtlich Entdeckungen, um nicht zu sagen „Ausgrabungen“. Frau Dörlemann in Zürich gebührt Dank, dass sie Iwan Bunin mit einer bisher 11-bändigen Werk-Ausgabe die Treue hält! Bunin verlässt 1920 als Geächteter sein Land – mit dem letzten möglichen Schiff von Odessa aus.

Thomas Grob, Slawist in Basel, unterrichtet uns im Nachwort über die russische Szene in Paris, aus der Bunin als erster russischer Nobelpreisträger (1930) herausragt. Die Erzählungen sind gut erzogen heftig, anteilnehmend und herzbewegend schmerzend, nicht leicht zu vergessen: „Mitjas Liebe“. Bunin legt eine so noch nie geschriebene „Literatur der Pubertät“ vor; Scheiterdramen junger Männer, Pubertät als lebenslange Turbulenz in meisterhaft literarischer Feinschmiedekunst, mit kaum explodierender Anständigkeit! Lesen, einfach Lesen!

Zur Pariser russischen Szene gehören viele, lange Zeit für uns, aber auch in Russland unbekannte Autoren: Zu den Großen, die wir endlich lesen können, gehört

Mark Aldanow, Der Anfang vom Ende. Aus dem Russischen von Andreas Weihe. Mit einem Vorwort von Sergej Lebedew und einem Nachwort von Andreas Weihe, Rowohlt Verlag 2023, 683 S., 38.00 Euro

Aldanow heißt Mark Alexandrowitch Landau, 1886 im großbürgerlich- jüdischen Kiew geboren, verließ er die Stadt und Russland mit achtzehn Jahren und vier neuzeitlichen Sprachen und Goldmedaillen für Latein und Altgriechisch, ging zum Studium 1911 nach Paris, Mathematik und Chemie im Blick, schrieb zuvor ein Buch über ethische Konzepte bei Tolstoi und Rolland, 1925 auf Deutsch Das Rätsel Tolstoi. Er arbeitete ab 1914 in St. Petersburg als Chemiker an wichtigen Projekten zum Schutz der Bevölkerung vor Giftgasen. Von der Borniertheit der revolutionären Behörden geschockt, verließ er 1919 Russland, wie Bunin aus Odessa, nach Paris. 1922 findet man ihn

im „russischen Berlin“ Er schreibt und schreibt und schreibt und wird in Berlin von Walter Benjamin als Autor der „chronique scandaleuse unseres Erdteils“ wahrgenommen, weitaus bekannter und respektierter als Bunin und Nabokov. 1940 flieht er in die USA, wird die Stimme der russischen Emigration, kehrt 1947 nach Nizza zurück, wo er 1948 stirbt. Bis 1989 wurde keine Zeile von ihm in der Sowjetunion gedruckt – eine beispiellose Selbstberaubung aufgrund ideologischen Gehirnverlustes. Andreas Weihe skizziert Leben und Werk Aldanows im Nachwort sympathisch, nicht belehrend. Da kommt ein Großer zurück nach Berlin; dreizehnmal für den Nobelpreis nominiert, nie gewählt – ob es am Vatername Landau lag?

Ende der Dreißiger Jahre fahren drei hohe Repräsentanten des Stalinreiches nach Paris, weil der „Anfang vom Ende“ Europas in der Luft liegt. Nun leuchtet Aldanow die politischen Bühnen in Frankreich, Spanien und Deutschland aus und man hält den Atem an bis zur letzten Seite! Warum hat man uns diese Geschichtsbücher vorenthalten? „Anfang vom Ende“ – vom sozialistischen Aufbruch in Russland, vom Demokratiejahrzehnt in Deutschland und „Anfang vom Ende“ gegenwärtig?

Ein weiterer Titel erzählt vom „Anfang eines Aufbruchs“:

Stephan Abarbanell, Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit, Blessing Verlag 2024, 240 S., 24.00 Euro

Um es vorweg zu sagen, Paula ist die Gattin von David Ben-Gurion, mit dessen Namen eine historische Revolution verbunden ist. Die Wiedergeburt des jüdischen Staates – eine Trotzgeburt angesichts der mannigfachen Todeswünsche christlicher und muslimischer Stimmen. Und Paula heiratete einen jüdisch-träumerischen Realisten und bekam einen Staat; so lautet ein gängiges Bonmot. Was an diesem Buch so wichtig ist: Es informiert heute über ein Israel, das kaum jemand kennt; wie es entstanden, gewachsen und von den unterschiedlichsten Mentalitäten, Herkünften und Hoffnungen erfüllt ist. Der Roman spielt am Vorabend eines Adenauer-Besuches – damit sind Themen auf dem Tisch, die je für sich Bücherregale füllten und weiterhin füllen. Gibt es das, einen Lern-Roman? Angesichts unerträglicher Schrillheiten, bleihaltiger Luft und lebensbedrohlicher Zerrissenheiten in und um

Israel ein wohltuendes, ja, ein liebevolles Buch, das einen wieder zu Atem kommen lässt. Ein Paar- Porträt wie eine politische Therapie, eine „ausgesprochen“ angenehme Lektüre für Zeiten, deren Eintreffen wir partout nicht wünschen … Bleibt die Frage: Wie wandert der Name „Abarbanell“ von der Wende des 13. zum 14. Jahrhundert in die Potsdam-Babelsberger Gegenwart? Jizchak Abravanel war ein genialer, normsetzender Toragelehrter jener Jahrhunderte – neben seiner hochgeschätzten Finanz-Beraterarbeit bei verschiedenen Fürstenhäusern mediterraner Imperien. Abravanel – jahrhunderteüberragende exegetische Bibelkennersäule – schreibt über das Leben von Paula im Wüsten-Kibbuz Sde Boker – seltsam, seltsam … Lesen, einfach lesen! Dies gilt mit unveränderter Dringlichkeit auch für

Sasha Marianna Salzmann / Ofer Waldman, Gleichzeit, Briefe zwischen Israel und Europa, Suhrkamp 2024, 142 S., 20.00 Euro

Simchat Tora ist ein jüdisches Fest größter Freude; in ausgelassenem Jubel tanzt die Synagogengemeinde mit den Torarollen, Bräuten gleich, im Arm und freut sich hingegeben über die Verbundenheit von Volk, Schrift und Gott. In diese Stunden heiterer Liebes- und Lebensfreude zielt, schießt und mordet die Hamas am 7. Oktober 2023 ins Herz Israels. Die Wahl dieses Festes als Tötungsdatum sagt alles aus über die Hamas und ihr menschenmörderisches Vorhaben. War der weltweite Israelhass noch hier und da durch kulturgeprägte Tore zurückgehalten worden – nun brach er mit einer nach 1945 unvorstellbaren Härte hervor und hält an. Nach der ersten Radiomeldung über den Angriff schoss es mir durch den Kopf: „Jetzt

wird Gaza ein Friedhof“. Von simchat tora hörte man in Deutschland nahezu nichts, in Israel (auch in Wikipedia!) spricht man vom Simchat Tora-Krieg. In dem schrillen Stimmenlärm und den traumatischen öffentlichen Fehlleistungen („documenta“ als fürchterliche Perversion ihrer eigenen Grundidee!) muss man ein schmales Buch hervorheben, das in Tonlage, Menschlichkeit und Erfahrungsdichte vieles überragt, was an Analysen u.ä. zu lesen ist. Das Freundschaftspaar Sasha Marianna und Ofer legt einen Briefwechsel „zwischen Israel und Europa“ vor, der modern und traditionsgebunden, besonnen und leidenschaftlich nachdenkt über das Geschehene und das, was uns begleitet. Ein Buch, das uns zur Ruhe kommen lässt und im gleichen Atemzug nicht zur Ruhe kommen lässt! Frau Faeser, Herr Elsässer und ihr verknurzeltes Wortgeknäuel … für eine Zeit „compact“ beiseite legen und diesen Briefwechsel lesen! Dafür Zeit finden kann mehr erbringen in Familie, Schule, politischen Zirkeln und Fortbildungskursen als in Lehrplänen festgeschrieben. Ein idealer Band für „heute“. Und wer erweitern, verstärken, verdichten und unterfüttern will, greife zum nächsten Briefwechsel, zum nächsten Dialog, zum nächsten Tagebuch:

Navid Kermani / Natan Sznaider, Israel – Eine Korrespondenz, Hanser Verlag 2023, 63 S., 10.00 Euro

Moshe Zimmermann Moshe Zuckermann, Denk ich an Deutschland … ein Dialog in Israel, Westend Verlag 2023, 303 S., 25.00 Euro

Saul Friedländer, Blick in den Abgrund, ein israelisches Tagebuch, C.H. Beck Verlag 2023, 236 S., 24.00 Euro

In diesem Jahr schier unerträglicher Gleichzeitigkeit von Inhumanität und Humanität stellen wir ein Buch humaner Antwort auf erlittene entsetzliche Inhumanität als auch eine Aussicht ans Ende:

Salman Rushdie, Knife – Gedanken nach einem Mordversuch, Penguin Verlag 2024, 255 S., 25.00 Euro

Ein Buch der Gnade, der Vergebung und des Heilens nach schwerer Verwundung. Kürzlich stellte Rushdie es in Berlin persönlich vor und erntete Respekt und Anerkennung. Der Mordversuch, das Augenattentat, das Überleben und die Erholung waren in den Medien präsent – hier nun erzählt Rushdie, was ihm widerfuhr – eine schriftgewordene Gestalt der Barmherzigkeit, der Versöhnung und vieler Formen von Liebe und Verständnis erfüllter Therapie. Er erhielt 2023 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels – angemessen, gut gewählt und ein wahrer Preis- Träger! Man muss solche Bücher lesen, um in dieser Zeit überhaupt lese- und hörbereit zu bleiben.

Kleines Bücherpäckchen der Enkel

FANNY (13) empfiehlt für den Leseherbst:

Julia Jost, Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, Suhrkamp Verlag 2024, 231 S., 24.00 Euro
Im Jahr 1994 sitzt auf einem Hof in Kärnten (Süd-Österreich) die 11-jährige Erzählerin unter einem Umzugslaster, weil sie ein letztes Mal Verstecken mit ihrer Freundin Luca spielt, bevor sie in ein größeres Dorf ziehen wird. Nacheinander kommen verschiedene Dorfbewohner auf den Hof, zu denen die Erzählerin in Rückblenden verrückte und ungewöhnliche Geschichten erzählt, die sie alle über die Jahre gesammelt und erlebt hat.
Die Sprache, in der das Buch geschrieben ist und auch die Erzählungen selbst haben mich sehr überrascht, und ich fand den schwarzen Humor lustig. Nicht alle österreichischen Wörter habe ich verstanden, aber trotzdem war die Geschichte sehr interessant und unterhaltend. Weil es manchmal schwer zu verstehen ist und die Rückblenden auch teilweise drastisch sind, würde ich es für Jugendliche ab 13 Jahren und für Erwachsene empfehlen.

Klaus Kordon, Und alles neu macht der Mai, Gulliver Verlag 2021, 442 S., 11.00 Euro
Rena muss ihr altes Leben hinter sich lassen und eine neue Heimat finden. Gemeinsam mit ihrer Familie flieht sie im Frühjahr 1945 aus Posen in das kleine Dorf Kewenow südlich von Hannover. Dort muss die 16-jährige den ganzen Tag auf einem Bauernhof schuften. Sie trifft auf Klaas, der sie zum Zweifeln an Hitler und dem Nationalsozialismus bringt. All ihre Gedanken schreibt Rena in ein Tagebuch für ihre kleine Schwester „Jutsch“, damit diese später einmal alles über das neue Leben erfährt, und erzählt so von einem Deutschland kurz vor Ende des 2. Weltkriegs und danach. Mir hat das Buch sehr gut gefallen, weil die Gefühlswelt von Rena und ihre Überlegungen so schön beschrieben werden. Außerdem lernt man durch die Geschichte das Leben und die Meinungen der Deutschen am Ende des 2. Weltkrieges gut kennen. Ich würde den Roman für Kinder ab 12 Jahren empfehlen, weil zwar keine Gewalt vorkommt, einige Szenen aber schon sehr hart sind.

BENJAMIN (11) empfiehlt für den Leseherbst:

Marie Hüttner, Mitternachtsdiebe, Thienemann Verlag 2024, 288 S., 13.00 Euro
In dem Buch Mitternachtsdiebe geht es darum, dass Pia und ihr Freund Pepe einen Kriminalfall aufklären müssen, denn die berühmte Piroschka- Figur aus dem Museum, in dem Pias Papa arbeitet, ist gestohlen worden. Doch leider ist das nicht so ganz einfach, weil in Pias Leben alles drunter und drüber geht, denn Pias Vater hat eine neue Freundin, die jetzt auch noch mit ihrem nervigen Kind in die Wohnung von Pia und ihrem Vater einzieht …
Das Buch ist geeignet für Kinder ab 10 Jahren, die spannende Krimi- und Freundschaftsgeschichten mögen.

Für die letzte Ferienwoche liegen auf dem Schreibtisch, wovon ich demnächst berichten will:

Nicole Henneberg, Gabriele Tergit, Zur Freundschaft begabt, eine Biographie, Schöffling & Co. 2024, 395 S., 28.00 Euro

Saša Stanišić, Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne, Luchterhand Verlag 2024, 256 S., 24,00 Euro

Der Bücherbrief erscheint in Zusammenarbeit mit Schleichers Buchhandlung in Dahlem-Dorf, Königin-Luise-Straße 41, 14195, Tel. 84 19.02 -0, www.schleichersbuch.de