Festlich, köstlich und besonnen – vom Gemeinsinn zur Herzensbildung
Eine Veröffentlichung der Schleichers Buchhandlung Dahlem-Dorf
„Kam ein Wort, kam durch die Nacht, wollt leuchten, wollt leuchten“, wer einmal nichts mehr zu sagen wusste, ahnt, wie schwer das ist, bis ein Wort kommt. Paul Celan bewegt seine Worte stockend, wiederholend, schwerfüßig, unermüdlich. Nicht irgendein Wort – ein leuchtendes, ein einleuchtendes. Was das oft kostet – zwischen Kindern und Eltern, Kranken und Gesunden, Einsamen und Zuhörenden – ein Wort, das leuchtet, das durch die Nacht kommt.
Ein afrikanisches Mädchen erzählt: „Eines Tages bekamen wir eine neue Lehrerin, eine weiße Amerikanerin. Sie war sehr freundlich, aber sie hatte keine guten Manieren. Sie schrieb 10 Rechenaufgaben an die Tafel, sie stellte zehn Kinder vor die Tafel, jedes Kind sollte eine Aufgabe ausrechnen. „Wer zuerst fertig ist, dreht sich um,“ sagte sie. Wir aber warteten ab, bis alle die Aufgaben gelöst hatten und dann drehten wir uns alle gemeinsam um.“
Am Morgen nach der Qualwahl in Amerika kam dieses „Wort durch die Nacht“ zu mir und ich wusste, es ist die Antwort auf den gesellschaftlich-politischen Totalschaden durch eine unreplizierbare Anomalie namens … der Name nicht auch hier noch … Das Wort Gruselkabinett traf selten genauer ins Schwarze: Ein in übles Mistzeugs verstrickter Mensch sollte Justizminister werden, ein entschiedener Impfgegner Gesundheitsminister. Das afrikanische Mädchen erzählt die Antwort auf diese bizarr rechtsextreme Orgie autoritärer Neigungen. Bernie Sanders, früherer Präsidentschaftskandidat, fasst es noch knapper: „Not me. Us.“. Nicht ich, sondern wir.
Nils Minkmar schreibt den gescheiten Internet-Blog „Der siebte Tag“, für Theologen ein wunderbarer Titel; er zitiert die Analyse eines amerikanischen Freundes: „White supremacy and misogynoir“ – warum wählen Millionen Menschen jemanden, der lügt und ihre Zukunft ärmer werden lässt? Leben wir in der Stunde unsicherer Männer? Wohin man sieht … „Du bist in großer Gefahr. Ich bin ein Machtmann. Folge mir, und du bist sicher.“ Da ist es wohl rührend und romantisch, wenn hier Bücher vorgestellt werden, die den Kontrast bilden zu dem, was „jenseits aller Vernunft“ zur Zeit geschieht. Es geht nicht um America first, wie das afrikanische Mädchen hellsichtig wahrnahm („und wer zuerst …“), es geht um Gemeinsinn!
Aleida und Jan Assmann, Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn.
C. H. Beck Verlag, 262 S., 25.00 Euro
Gehen am Heiligen Abend viele Menschen in die Kirchen, die Provokationen der Weihnachtsgeschichte zu hören samt herzbewegender Musik, so sollten sie gleich im Gemeinsinn der Assmanns weiterlesen! Die Tochter des Heidelberger Neutestamentlers Günther Bornkamm legt hier einige Exkurse in christlicher Theologie hin, die es in sich haben und die weihnachtlich-umstürzlerischen („Er stößt die Mächtigen vom Thron“) Aussichten glasklar zur Sprache bringen.
Ein Buch wie gemacht für das Fest 2024, wie gedacht als Antwort auf die Weltmisere in Washington. Es ist ein kluges Buch – mitwachsend verfasst bis in aktuell gegenwärtige Situationen und zugleich philosophiehistorisch freundlich-gründlich erzählend, klärend, entfaltend, zurechtrückend, dialogisch und im allerbesten Sinne unterrichtend, ja, erinnernd und aufklärend zugleich, was hervorragend und so dringend nötig ist: Es macht gesprächsfähig in einer einem die Sprache verschlagenden Zeit, mit diesen in ihren Ländern zementierten Autokraten. „Gemeinsinn“ – ein in seinen Spielarten – Gemeinnutz, Gemeinwohl, Gemeinschaft – oft furchtbar pervertiertes Wort, von den schlimmsten Strömungen gerne als Schmuck mitgenommen. Überhaupt: Hilfreich und entlastend-befreiend zu lesen und zur eigenen Vergewisserung beitragenden Exkurse sind die Begriffsuntersuchungen zu Solidarität, Brüderlichkeit, Respekt wie auch der Blick auf die Beziehungsgrammatiken in unseren Freund- und Feindbildern. Es gibt unverkennbare Sympathieporträts, so von Karl Löwith und dem Mitmenschen, aber auch unbestechliche Schauerporträts wie von Carl Schmitt und seinem todbringenden Freund-Feind-Denken. Diese deutschen Großdenker, von denen man nach dem schrecklichen Elend nie, nie, auch nur ein einziges Mal das Wort Holocaust hörte…
Kein Katheder-Buch, sondern mit einem Schlusskapitel Helden und Heldinnen des Gemeinsinns, das den Stolpersteinen, Denkmälern, Tafeln, den versehrten Städten und dem Mit-einender-Reden gewidmet ist sich zuwendet. Höchst aufschlussreich ist Aleida Assmanns Hinweis darauf, dass die AFD nur von Zusammenhalt spricht, nie von Gemeinsinn! Gemeinsinn meint das Wohl der Allgemeinheit, daran ist die AFD trotz ihrer röhrenden Rhetorik nicht interessiert, sondern allein an ihrer Eigengruppe, und die hat enge Grenzen. Ein Buch glänzender akademischer Belesenheit und argumentierbereiter Marktplatz-Debatten- Freudigkeit. Keine gesammelten Vorlesungen – im Sinne des Titels, eine menschenfreundliche Lektion zu Weihnachten, dem Fest des Gemeinsinns, des sechsten, des sozialen Sinns und natürlich des Lesens. Und, ganz nebenbei, so wohltuend wie nur denkbar eine ausgesprochen altmodische Anleitung zur Herzensbildung: